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Herr Kenner kommt auch nach der Wahl

Kirchheims neuer SPD-Abgeordneter bleibt sich und seinem Politikstil auch im Landesparlament treu

„Man muss sich auch mal hinhocken und bleiben.“ Andreas Kenner sieht sich als Bürgervertreter im eigentlichen Sinn. Dabei wollte er nie bürgerlich sein.

Erzählen, zuhören, mitten drin sein - als unkonventioneller Stadtführer ist „Anne“ Kenner in seinem Element. Auch wenn die Zeit
Erzählen, zuhören, mitten drin sein - als unkonventioneller Stadtführer ist „Anne“ Kenner in seinem Element. Auch wenn die Zeit dafür nun knapper wird, während des Weindorfs will er sich solche Momente nicht nehmen lassen.Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Mit dem Blues ist es bestenfalls wie mit der Politik. Er kommt tief von innen heraus, er treibt an, und er macht mitunter traurig. Wenn der „Anne“ zur Bluesharp greift, die Bühne bei der Kirchheimer Musiknacht oder drunten im Bastionskeller betritt, dann ist es meist schon weit nach Mitternacht. Sein Instrument beherrscht er, die Hauptrolle aber spielen andere. Den Blues, die intonierte Wehklage – ­Andreas Kenner hat ihn schon lange und mit ihm nun auch seine Partei, die SPD. Seit nach der Landtagswahl im März die Existenzkrise nicht mehr wegzudiskutieren ist, macht sich bei den Roten ein Mix aus Trotz und Ratlosigkeit breit. Doch Kenner wäre nicht Kenner, hätte er dazu nicht die passende Note in der Partitur: „Mit Depressionen kenne ich mich aus“, sagt der gelernte Altenpfleger und die Lachfurchen überm grauen Rauschebart graben sich für einen Moment noch tiefer ins Gesicht. Langes Lamento ist nicht sein Ding.

Ein politischer Mensch war Andre­as Kenner schon immer. Jetzt sitzt er mit 59 Jahren zum ersten Mal im Landtag und hat für die Genossen im Wahlkreis Kirchheim das einzige Neu-Mandat hinzugewonnen. Sein Ziel: Die Verdoppelung des Wahlergebnisses in fünf Jahren. Wie kann man in der Opposition erreichen, was man schon in der Regierung nicht geschafft hat, ist eine Frage, die nicht nur er sich stellt. Soziale Wohnungspolitik, Integration, bessere Pflege – das sind seine Themen. Damit kennt er sich aus. Im bisherigen Beruf, als Kommunalpolitiker, als Kulturschaffender. „Wenn man will, dass die soziale Schere nicht noch weiter auseinanderklafft und die Menschen lieber AfD wählen“, sagt Kenner, „dann muss man ihnen zuhören.“

Das hat er früher schon getan und tut es jetzt erst recht. Einziger Unterschied: Wenn er sich heute beim Dorffest unters Volk mischt, wird er vom Dirigenten des Musikvereins am Mikrofon willkommen geheißen. Zuhören, bleiben, reden. Gerade hat er seine sogenannte Sommertour gestartet. Die Tournee durch die Dörfer ist nichts weiter als die Fortsetzung des Wahlkampfes in den Wintermonaten. „Schön, dass sie auch nach der Wahl noch kommen“, ist ein Satz, den er häufig hört. Auch wenn er sagt, was nicht alle hören wollen. Dass dieses Land Zuwanderung braucht, dass schon heute mehr als die Hälfte aller Pflegekräfte einen Migrationshintergrund haben und der Markt dramatisch wächst. Er sagt auch: „Ich bin kein Freund von Leitkultur, aber wer hier bleiben will, muss unsere Grundwerte akzeptieren.“ Er setzt sich ein für mehr Netzwerkarbeit und weniger Kirchturmdenken, damit der ländliche Raum nicht ausblutet.

Kenner redet viel, aber selten von Dingen, die ihm fremd sind. Vor allem: Er redet in einer Sprache, die jeder versteht. Einer, der die politische Debatte vom Sockel holt und sie in den Medien schon mal ins Feuilleton verlagert. Als Stimmenkönig im Kirchheimer Gemeinderat und auch bei der Landtagswahl ist er damit zum Mann geworden, der im Zerfallsprozess der SPD erfolgreich gegen den Trend anstrampelt. Sein Platz ist an der Basis. „Mit 59 bin ich nicht die Alternative für die Zukunft“, sagt Andreas Kenner. Frei zu sein von karriererelevanten Zwängen empfindet er als Vorteil. Ein Parteiamt kam deshalb nicht infrage, stattdessen sitzt er für seine Fraktion im Ausschuss für Soziales und Integration und im Petitionsausschuss.

Ein Linker, der weiß, dass man mit parteipolitischem Kalkül allein keine Stimmen fängt, und dass Rot-Rot im Bund keiner braucht, wenn die SPD sozialdemokratische Politik betreibt. Erst die Menschen, dann die Partei. Vielleicht hat er deshalb die rote Krawatte, die ihm die Kollegen der Freien Wähler im Gemeinderat nach der Wahl geschenkt haben, noch immer daheim in der Schublade.