Kirchheim. „Die große Pilgerfahrt nach Mekka lässt die Menschen die Gnade Gottes ganz nah erfahren“, weiß Ismail Cinel, der sich bereits dreimal zum zentralen Wallfahrtsort des Islam aufgemacht hat. Weit über eine Milliarde Muslime in der ganzen Welt beten zeitversetzt und rund um die Uhr in Richtung Kaaba. In Mekka selbst sind es während der Haddsch rund fünf Millionen Gläubige. „Dabei entsteht eine unglaubliche Energie und Einheit“, wie der Hoca der Kirchheimer Moschee Sultan Ahmet berichtet.
Als er vor der Kaaba, dem kubusförmigen Mittelpunkt, in dem alle Gebete zusammenlaufen, stand und sich „vor Gott in demütiger Liebe und Sehnsucht betend niederwarf“, wurde er Teil dieses Zentrums, in dem sich Energie und Einheit der muslimischen Gemeinschaft konzentriert bündeln. Für Ismail Cinel und Sinan Kalitepe, der im vergangenen Jahr erstmals zur Pilgerfahrt aufbrach, war das eine überwältigende Erfahrung. „Es war ein atemberaubendes Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt – jeder muss es selbst erleben“, sagt Kalitepe. „Eingehüllt in das Pilgergewand sind alle gleich. Äußerlichkeiten spielen keine Rolle. Im Mittelpunkt stehen das Menschsein und die Beziehung zu Gott.“ Ohne Hinweise auf Herkunft, soziale und wirtschaftliche Stellung tritt jeder Gläubige, genau wie am Tag des Jüngsten Gerichts, vor das Angesicht Gottes, wie Ismail Cinel erläutert.
„Zur wichtigsten Pflicht eines Pilgers gehört, dass er sich am neunten Tag des Haddsch-Monats auf der Bergebene Arafat aufhält“, so Cinel. „Dort hat der Prophet Mohammed im Jahr 632 nach Christus seine letzte Predigt gehalten, bevor er starb.“ Dieser Abschiedspredigt hätten damals 130 000 Muslime beigewohnt. „Es war das erste Mal, dass so viele an einem Ort zusammengekommen waren“, erzählt der Hoca. „Das verleiht dem Berg unter den Vertretern des Islams eine ganz besondere Bedeutung. Der Tag am Arafat ist laut Merve Aydin dem Gebet, der Meditation und der Buße vorbehalten. „Durch das Anlegen des Pilgergewands begibt sich der Gläubige in einen Weihezustand, der als Ihram bezeichnet wird“, erklärt die Studentin. „Spirituell gesprochen, stirbt er dabei und ersteht durch den Besuch des Arafats, wo er Rechenschaft ablegt, Reue zeigt und Buße tut, wieder auf. Es wird also eine Abrechnung vollzogen.“
Anschließend verbringen die Pilger die Nacht im Musdalifa-Tal und kehren in den Ort Mina zurück, wo sie anlässlich des Opferfestes Id Al-Adha ein Tier schlachten, dessen Fleisch an die Armen und Bedürftigen als Almosen verteilt wird, wie Ismail Cinel berichtet. „In Mina wird auch der Teufel ausgetrieben“, fährt er fort. „Dazu werden sieben kleine Steine gegen eine konkave Mauer geworfen, die den Teufel darstellt. Die Steine symbolisieren die Sünden.“ Anschließend rasieren sich die männlichen Pilger das Haupthaar oder kürzen es, während sich die Frauen eine Haarsträhne abschneiden, wie Ismail Cinel weiter ausführt. „Befreit von früheren Sünden beginnt damit ein neuer Lebensabschnitt.“
Danach ziehen die Pilger nach Mekka, wo sie den sogenannten Tawaf vollziehen. Dabei wird die Kaaba sieben Mal entgegen dem Uhrzeigersinn umrundet. Daran schließt sich laut Ahmet Gücyeter der Sa‘i, der siebenmalige Gang zwischen den Hügeln Safa und Marwa, an. In seinem Verlauf werde die Suche nach Wasser nacherlebt, wie sie die Frau Abrahams, Hagar, mit ihrem Sohn Ismael erlebt. Abraham hatte die beiden in die Wüste geschickt. „Als ihr Proviant zuneige ging, suchte Hagar zwischen den beiden Hügeln verzweifelt nach Wasser“, sagt Gücyeter. „Als sie das siebte Mal zwischen den Hügeln Safa und Marwa umherlief, entsprang eine Wasserquelle aus dem Boden, die sie Zamzam nannte und die es heute noch gibt.“ Pilger aus aller Welt nehmen das Wasser mit nach Hause und essen Datteln, wenn sie es trinken, wie der Student erzählt.
Merve Aydin und Ahmet Gücyeter haben noch keine Pilgerfahrt nach Mekka unternommen. „Zuerst muss man schuldenfrei sein, finanziell auf eigenen sicheren Beinen stehen“, sagt Gücyeter. „Als Student erfülle ich diese Voraussetzung nicht, daher muss ich noch warten.“ Für die beiden Studenten steht aber fest, dass sie diese Erfahrung in ihrem Leben nicht missen und die fünfte Säule des Islam erfüllen möchten.