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Leben in einer Welt ohne Bilder

Teilhabe Die 29-jährige Claudia Lychacz ist seit ihrer Geburt sehbehindert. In Plochingen vermittelte sie Passanten, was es bedeutet, blind zu sein. Von Thomas Krytzner

Treppen haben es in sich. Für Menschen, die eine Sehbehinderung haben, werden sie schnell zur Falle.Foto: Thomas Krytzner
Treppen haben es in sich. Für Menschen, die eine Sehbehinderung haben, werden sie schnell zur Falle.Foto: Thomas Krytzner

Für Sehende ist die Welt der Sehgeschädigten und Blinden kaum vorstellbar. Und umgekehrt ebenso. Claudia Lychacz kam mit grauem Star zur Welt und hatte damals noch ein Sehvermögen von 80 Prozent. „Ich hatte mit sieben Monaten meine erste Operation am Auge.“ Bis heute wurde Claudia Lychazc nahezu 100 Mal an den Augen operiert. Ihre Sehfähigkeit verbesserte sich durch die Eingriffe jedoch nicht. Im Gegenteil: „Beim Abitur im Jahr 1999 lag mein Restsehvermögen noch bei 50 Prozent - heute sind es noch zwei Prozent.“

Die abnehmende Sehfähigkeit führte bei ihr dazu, dass sie ihr Studium abbrechen musste und auch ihren Wunsch, Kinderärztin zu werden, aufgab. Den Lebensmut hat Claudia Lychacz jedoch nicht verloren. „Ich bin durch die Behinderung viel taffer geworden und kann mich besser durchsetzen“, erklärt die 29-Jährige. Sie hat zwar oft mit dem Schicksal gehadert - und das passiert auch heute noch manchmal -, weil sie vom Sehen in Etappen Abschied nehmen musste. „Es ist ein jahrelanger Prozess. Da habe ich mich zwar oft verkrochen und geheult, aber immer wieder ins Leben zurückgefunden.“ Besonders bitter war der Moment, als für Claudia Lychacz klar wurde, dass sie es nicht mehr alleine schafft und auf fremde Hilfe angewiesen ist. „Ich hatte immer alles unter Kontrolle. Da wird es ganz schwierig, Verantwortung abzugeben oder jemanden um Hilfe zu bitten.“

Es blieb ihr aber nichts anderes übrig. Sie machte sich mit dem Blindenstock - auch „weißer Stock“ genannt - bekannt, bat Nachbarn um Hilfe und hat seit Kurzem einen Blindenführhund. „Der Nachbar nimmt mich samstags zum Einkaufen mit. Wir haben viel Spaß und ich bin sehr froh, dass es ihn gibt.“ Seit die fast Blinde mit ihrem helfenden Vierbeiner unterwegs ist, haben sich auch neue Kontakte ergeben. „Ich habe Menschen kennengelernt, denen ich als Sehende wohl kaum Beachtung geschenkt hätte. Mein treuer Begleiter ist Brückenbauer und Türöffner“, freut sich Claudia Lychacz. Dennoch ist sie mit dem Blindenführhund nicht überall willkommen. „In öffentlichen Gebäuden ist der Zugang mit meinem Hund kein Problem, aber es gibt viele Orte, an denen Hunde nicht erlaubt sind.“

Obwohl die Welt der Blinden nicht gerade farbenfroh ist, gibt es doch immer wieder fröhliche Momente und komische Situationen. „Ich habe in einem Kaufhaus mal nach dem Weg zur Rolltreppe gefragt“, erzählt Claudia Lychacz. Als die angesprochene Person auch nach dem dritten Mal nicht antwortete, meldete sich eine Dame aus dem Hintergrund zu Wort und sagte: „Sie reden mit einer Schaufensterpuppe.“

Im Alltag ergeben sich aber auch immer wieder Situationen, die Claudia Lychacz wütend machen: „Fahrradfahrer, die nicht klingeln und plötzlich an einem vorbeizischen oder Autofahrer, die an Zebrastreifen nicht anhalten.“

„Die Welt wird klein, wenn man nichts mehr sieht“, beschreibt es die junge Frau. Sie behilft sich mit Hören und Riechen. „Wenn ich zum Beispiel eine Apotheke suche, kann ich mich auf meinen Geruchssinn verlassen.“ Hindernisse gibt es in der Welt der Blinden viele. „Treppen haben es in sich, besonders wenn die Stufen unterschiedlich hoch sind.“

Wunsch: Piepende Ampeln

Wer noch über ein kleines Restsehvermögen verfügt, wird von Licht und Schatten geplagt. „Wenn ich aus dem Schatten ins Sonnenlicht trete, wird das unglaublich hell und die Augen schmerzen.“ Claudia Lychacz wünscht sich, dass alle Lichtsignalanlagen umgerüstet werden. „Sie sollten piepsen oder klackern. Das wäre für die Sehbehinderten eine echte Hilfe. Das Vibrieren bringt nichts, weil man da den Knopf anfassen muss.“ Ein weiteres Hilfsmittel ist für sie das Handy. Einige Smartphones sind mit einer Sprachausgabe ausgestattet, die es auch Sehbehinderten ermöglicht, das Handy zu benutzen. Lychacz ist optimistisch: „Die Wissenschaft ist auf dem richtigen Weg. Es gibt sogar schon Brillen, die mit speziellen Kameras ausgestattet sind oder Navigationsgeräte für Blinde.“

Allerdings möchte sie nicht nur über ihre Blindheit definiert werden. „Es gibt ja noch mehr als meine Augen“, sagt sie. „Viele Menschen vergessen, dass man sich mit mir auch über Politik oder Fußball unterhalten kann.“ Auch Träume hat Claudia Lychacz: „Ich träume von einem sicheren Arbeitsplatz mit einer unbefristeten Anstellung. Und von Irland. Auch wenn es noch 20 Jahre dauern sollte, irgendwann stehe ich auf den Klippen der Küste.“

Selbstversuch in Plochingen

Treppen haben es in sich. Für Menschen, die eine Sehbehinderung haben, werden sie schnell zur Falle.Foto: Thomas Krytzner
Treppen haben es in sich. Für Menschen, die eine Sehbehinderung haben, werden sie schnell zur Falle.Foto: Thomas Krytzner

Passanten konnten sich beim „Tag des weißen Stockes“ in Plochingen am Stand der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“ (EUTB) über das Thema Sehbehinderung informieren und mit verschiedenen Brillen unterschiedliche Sehstärken ausprobieren. Bei Spaziergängen konnten Interessierte auch testen, wie es sich anfühlt, vollkommen blind zu sein und sich mit dem Blindenstock zu orientieren. Claudia Lychacz begleitete die Interessierten und führte sie zum Abschluss der „Woche des Sehens“ in die Welt der Sehbehinderten ein.

1 Weitere Informationen gibt es telefonisch unter 0 71 53/6 16 61 05 oder im Internet unter www.neuearbeit.de