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Lebensretter kämpfen am Limit

Debatte Einsatzkräfte im Notfall-Sanitätsdienst leiden unter enormer Arbeitsbelastung und vielen Bagatell-Fällen. Die 112 ersetzt für immer mehr Patienten den Hausarzt. Von Bernd Köble

Die Botschaft klingt dramatisch, und sie geht alle an: Das „Bündnis pro Rettungsdienst“ warnt vor dem Kollaps in der medizinischen Notfallversorgung und sieht Deutschland sehenden Auges in die Katastrophe schlittern, sollte sich im Rettungsdienst nicht schleunigst etwas ändern. Der Verkehrstod einer 15-Jährigen am vergangenen Wochenende in Berlin hat die Debatte neu entfacht. 20 Minuten dauerte es dort, bis der Rettungswagen am Unfallort war. Die Hilfsfrist in Berlin liegt bei der Hälfte der Zeit.

Im Flächenland Baden-Württemberg sollten Rettungskräfte in 95 Prozent der Fälle innnerhalb von 15 Minuten am Einsatzort sein. Im Kreis Esslingen wurde dieses Zeitlimit im ersten Halbjahr in gut 93 Prozent der Fälle auch eingehalten. In der Mehrzahl waren die Helferinnen und Helfer sogar binnen sieben Minuten zur Stelle. Ein guter Wert. Also alles halb so wild? Mitnichten. Auch hier im Kreis schlagen die Rettungsdienste schon länger Alarm. Zuletzt im September bei einer Podiumsrunde mit Bundes- und Landtagsabgeordneten. Geschehen ist nichts.

„Wir sind absolut am Limit,“ warnt Marc Lippe, Bezirkschef des Malteser Hilfsdienstes, der in Esslingen, Tübingen, Reutlingen und dem Zollernalbkreis den Rettungsdienst mit 40 Einsatzfahrzeugen unterstützt. Dass zwei bis drei davon ruhen müssen, ist keine Seltenheit. Der Grund: fehlendes Personal. Gehäufte Krankheitsfälle, Kündigungen und jede Menge Frust haben dazu geführt, dass ungefähr ein Zehntel der planmäßigen Vollzeitstellen unbesetzt ist. Fast zehn Prozent derer, die bei den Maltesern in der dreijährigen Ausbildung zum Notfallsanitäter stecken, sind Geflüchtete.

Viele schmeißen hin

Eine Situation, die auch Michael Wucherer kennt. Die Arbeitsbelastung sei inzwischen so groß, dass immer mehr den Job nach wenigen Jahren wieder hinschmeißen, sagt der Leiter des DRK-Rettungsdienstes im Kreis Esslingen. Das Grundproblem: Fälle, für die der Rettungsdienst gar nicht zuständig ist, halten die Sanitäter Tag und Nacht auf Trab und machen inzwischen rund
 

Vom Halsschmerz bis zum Fußpilz.
Marc Lippe
Der Malteser-Bezirkschef zum
Einsatzgebiet der Rettungskräfte.
 

die Hälfte aller Einsätze aus. Das Spektrum, das die Frauen und Männer im Notfallsanitätsdienst inzwischen abzudecken haben, beschreibt Marc Lippe so: „Vom Halsschmerz bis zum Fußpilz.“ Die Einsatzkräfte kämpfen dabei zwischen allen Fronten. Dem Patienten, dem sie gar nicht helfen dürfen, weil seine Beschwerden in die Zuständigkeit von Hausärzten fallen, und der Notaufnahme in den Kliniken, die aus den selben Gründen ähnlich überlastet sind. „Im Prinzip sind wir es, die das Defizit in der hausärztlichen Versorgung ausbaden müssen,“ sagt Michael Wucherer.

Doch warum das alles? Bis Jahresmitte war die Patienten-Servicenummer 116 117 für den hausärztlichen Notdienst neben der Notrufnummmer 112 über die gemeinsame Rettungsleitstelle von DRK und Feuerwehr geschaltet. Bis vor fünf Jahren war das mangels einheitlicher Datentechnik tatsächlich ein Problem. Seit Inbetriebnahme der integrierten Leitstelle in Esslingen 2017 ist dieser Engpass beseitigt. Seit Juli allerdings läuft die Ärzte-Hotline über Servicestellen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Weil die auch andere Aufgaben hat, kommt es dort häufig zu langen Wartezeiten. Die Folge: Ungeduldige Anrufer wählen kurzerhand die 112, auch wenn sich das Anliegen hinterher als Bagatelle entpuppt.

Für die Rettungskräfte ist das zermürbend. Sie fordern daher die Rolle rückwärts oder anders ausgedrückt: Die Rückkehr der 116 117 in die Einsatz-Leitstellen. „Unsere Disponenten können die Lage einschätzen und in kürzester Zeit die richtigen Schritte einleiten,“ sagt Michael Wucherer. Sein Kollege Marc Lippe könnte sich vorstellen, dass ein Arzt die Leitstelle künftig beratend unterstützt. „Wir müssen schnellstmöglich Rechtssicherheit schaffen, damit Bagatellfälle am Telefon abgelehnt werden können,“ sagt der Bezirksgeschäftsführer der Malteser.

Der Druck auf die Rettungskräfte dürfte allerdings weiter wachsen. Künftig soll die Zeit von der Alarmierung bis zum Eintreffen am Einsatzort nämlich von 15 auf zwölf Minuten verkürzt werden. So steht es als Zielvorgabe im Rettungsdienstplan des Jahres 2022 des Landes. Für den DRK-Leiter Michael Wucherer steht jetzt schon fest: „Das ist nie und nimmer umsetzbar.“

Die Politik müsste reagieren. Die Frage ist wie und wo? Rettungsdienst ist Ländersache. Dafür zuständig ist das Innenministerium. Der Klinikbetrieb ist dagegen dem Sozialministerium unterstellt, während sich die Kassenärztliche Vereinigung bundesweit mit den zuständigen Stellen abstimmen muss. „Alle drei unter einen Hut zu bringen, ist fast unmöglich,“ meint Marc Lippe.
 

Die Hälfte ist am selben Tag wieder draußen

Eine gemeinsame Erhebung von Rettungsdiensten und Städtischem Klinikum in Esslingen macht die Probleme in der notfallmedizinischen Versorgung deutlich: Im ersten Halbjahr 2022 landeten rund 3200 Patientinnen und Patienten in der Notaufnahme des Esslinger Klinikums. Rund 1800, also mehr als die Hälfte davon, wurden nach kurzer ärztlicher Behandlung am selben Tag wieder entlassen. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser übernehmen seit Jahren Aufgaben, die in den hausärztlichen Versorgungsbereich fallen. bk