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Leichen im Keller

Das Landestheater Tübingen zeigt „Arsen und Spitzenhäubchen“ in der Stadthalle

Kirchheim. „Irgendjemand muss das ja machen!“ Das sagt Mortimer Brewster. Wer muss was machen? Er muss Theaterkritiken schreiben: ein Theaterkritiker ist Mittelpunktfigur

eines Theaterstücks. Es stammt von Joseph Kesselring, einem deutschstämmigen Amerikaner. „Arsen und Spitzenhäubchen“ wurde 1941 am Broadway uraufgeführt und lief jahrelang mit sensationellem Erfolg. Die Verfilmung mit Cary Grant, hat Stoff und Autor weltberühmt gemacht und ist ein Filmklassiker geworden.

Das Landestheater Tübingen besitzt nun den Mut, auf die Bühnenfassung zurückzugreifen und somit eventuell gegen die Filmbilder anzuspielen. Nun, das Theater hat seine eigene Realität. Die Tübinger haben als Kulisse ein „aufgeschnittenes“ Haus auf die Bühne der Stadthalle gestellt. Man bekommt Einblick in die gute Stube. Doch siehe da: alles ist schief, das Dach, die Fenster, die Möbel. Das wundert einen, denn hier hausen zwei alte Damen, deren Welt in gerader Ordnung zu sein scheint. Sie haben geradezu innige Beziehungen zur Geistlichkeit und zur Polizei.

Diese Welt besucht unser Theaterkritiker. Er ist der Neffe der beiden Damen und ist in dieser Wohnung mit zwei Brüdern aufgewachsen. Aber er gerät jetzt selbst gehörig in eine Schieflage, als er in einer großen Truhe eine Leiche entdeckt. Nicht genug damit, die beiden Damen erzählen ihm, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dass weitere elf Leichen im Keller begraben liegen, alles alte einsame Männer, die von ihnen aus Barmherzigkeit vergiftet wurden. Von dieser Reibung zwischen dieser gutbürgerlichen, scheinbar harmonischen Welt und dem haarsträubenden Schrecken, lebt das Stück. Die Komik in Form von schwarzem Humor entsteht dadurch, dass beide Komponenten ins Absurde gesteigert sind.

Neffe Mortimer schiebt angesichts der Aufgabe, die vielen Leiche zu managen, alles beiseite, sogar seine eigene Hochzeit. Er sucht für die nächste Theaterpremiere, über die er schreiben soll, telefonisch einen Ersatz. Selbst Sekretärinnen oder andere theaterferne Berufsgruppen kämen infrage. Offensichtlich ist keine Qualifikation nötig, um Theaterkritiker zu sein.

Die Bemühungen Mortimers, die Untaten zu vertuschen, scheitern, weil plötzlich sein Bruder Jonathan auftaucht, begleitet von einem Gesichtschirurgen Dr. Einstein, der im Suff diesem Bruder ein Frankensteingesicht verpasst hat. Es stellt sich heraus, dass dieses Brudermonster ein globaler Serienmörder ist, der ebenso viele Leichen produziert hat wie seine Tanten. Eine Leiche ist noch nicht entsorgt. Das Grausen nimmt absurde Dimensionen an, zumal die offiziell geordnete Gegenwelt in Gestalt von naiven Polizisten völlig ahnungslos ist. Es entsteht Getümmel mit wechselndem Personal, bei dem Teddy Brewster, ein weiterer verrückter Bruder Mortimers, der sich einbildet, Theodor Roosevelt zu sein, zur Attacke bläst. Das Happy End ist derart an den Haaren herbeigezogen, dass es nur eine Parodie auf die künstlichen Schlüsse von Theaterstücken sein kann.

Die Tübinger Truppe staffiert beide Welten aus: Die gutbürgerliche mit den beiden Damen, Markenzeichen sind die hohen Haartürme und ein tütteliges, geziertes Benehmen. An ihrer Seite finden sich strammstehende Polizisten. Auf der anderen Seite gibt es das hochgewachsene, schwarz gekleidete Monster Jonathan, der seinen hündisch ergebenen Chirurgen immer im Schwitzkasten hat. Durch Beleuchtungseffekte werden die beiden Sphären voneinander abgehoben.

Doch die Slapstikkomik, von der das Stück lebt, will nicht richtig zünden. Das Ergebnis sind eher Fragen als das Vergnügen über den typisch englischen schwarzen Humor. Wa­rum diese Schwitzkastendauerpose? Warum muss Dr. Einstein auch noch die Knie seiner Mitmenschen lecken? Warum wurde der zweite Teil nicht gekürzt, in dem Spannung und Überblick verloren gehen? Stattdessen beherrschen Geschrei und Klamauk die Bühne. Das spastische Dauerzittern des Leiters der Nervenanstalt ist nicht mehr lustig, sondern geschmacklos. So stellt der Kritiker dieses Gastspiels des LTT ernüchtert fest, dass es sich um keinen gelungenen Zugriff auf die Materie handelt, trotz respektabler Schauspielerleistungen wie bei Mortimer. Die Enttäuschung ist umso größer, als vom LTT schon gelungene Produktionen zu sehen waren.

Doch das Votum des Kritikers wiegt nicht schwer. Kritiker sein kann jeder, siehe oben. Das Publikum ist entscheidend, und das entschied durch den durchaus zufriedenen Beifall.