Weilheim · Lenningen · Umland

Lernvorgänge neu gedacht

Auszeichnung Die Dettinger Firma memex ist Erfinder von Utility Film. Digital erhalten die Neu-Anwender die Möglichkeit, sich schnell in Prozesse einzuarbeiten und sie auszuführen. Dafür gab es eine Auszeichnung. Von Iris Häfner

Die Kamera zeichnet jeden Arbeitsschritt auf. Fotos: Carsten Riedl
Die Kamera zeichnet jeden Arbeitsschritt auf. Fotos: Carsten Riedl

Das wäre mit einem Film der Firma memex nicht passiert: Ein Familienvater aus Ludwigshafen rastete vergangenen Sommer beim Zusammenbau einer Küche völlig aus. Es blieb beim Versuch, am Ende waren nur Trümmer übrig.

Das Zauberwort der Dettinger Firma memex zur Vermeidung solcher Missgeschicke heißt Utility Film. Utility wird mit Nützlichkeit aus dem Englischen übersetzt und das trifft die Sache im Kern. Jeden einzelnen Arbeitsschritt hält die Kamera fest - und zwar aus der Perspektive dessen, der beispielsweise ein Werkstück, eine Motorenkomponente oder eine Küche zusammenbauen will. Schritt für Schritt wird der Anwender durch den Arbeitsprozess geführt. „Ich habe relativ früh erkannt, dass das Transportieren von Wissen in Wort und Bild an Grenzen stößt und bei Bedienungsanleitungen sehr viel Übersetzungsarbeit geleistet werden muss“, sagt Robert Rothenberger, geschäftsführender Gesellschafter bei memex. Damals war er im Schwarzwald bei einer Maschinenbaufirma tätig und die EU-Osterweiterung war in vollem Gange. So kam er auf die Idee, es den Kunden einfacher zu machen, wenn sie in Tschechien oder Rumänien eine Fabrik aufbauten. Eine Anleitung ohne Worte für die Arbeiter sollte den Einlernungsprozess dort deutlich vereinfachen und optimieren.

„Ich komme aus dem Bereich Didaktik“, erklärt der Chef. 1983 ist er erstmals mit einem PC in Kontakt gekommen. Es ist eine dauerhafte Liebe geworden und bei Robert Rothenberger entwickelte sich ein Interesse an interaktiven Medien. „Ich versuche, pragmatisch an die Sache heranzugehen - wie viel Aufwand ist nötig, um einen Effekt zu erzielen?“, erklärt er. So hat er 2003 begonnen, mit Videos zu experimentieren. Ein Servicetechniker wird traditionell tagelang geschult. „Er lernt auf Vorrat, damit er das Wissen später abspulen kann, wenn die Maschine ausgeliefert wird“, sagt Robert Rothenberger. Das kann vier Wochen oder ein Jahr später sein. Lernen im Prozess wird nach Ansicht von Robert Rothenberger in Zukunft ein zentrales Thema sein. „Es kommt so langsam in den Köpfen der Verantwortlichen an“, sagt er und bedauert, dass es dazu noch kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt.

„Personalleiter machen sich heute zunehmend Gedanken, wie das Wissen im Unternehmen gehalten werden kann bei den komplexen Kompaktteilen“, erklärt Robert Rothenberger. Als Beispiel nennt er Nachbestellungen von Türschlössern für in die Jahre gekommene Autos, die in Tunesien TÜV-frei fahren - aber diejenigen, die die Schlösser produziert haben, schon lange im Ruhestand sind.

Mit den Utility Filmen ist dieses Wissen gespeichert. „Sehen und tun, damit ist die ,Behaltungsleistung‘ am größten. Das bewegte Bild erleichtert Dinge“, sagt der Geschäftsführer und weiter: „Wir haben nur eine kurze Darstellung der Abläufe, denn die Aufmerksamkeitsspanne liegt zwischen sechs und sieben Sekunden. Das Hirn schaltet sonst um, und es besteht die Gefahr, dass ein Arbeitsgang übersprungen wird.“ Deshalb sind seine Sequenzen drei bis vier Sekunden lang. Damit sich der Lernende voll in die Szenerie einordnen kann, filmt Robert Rothenberger über die Schulter des Profis und nimmt so die subjektive Perspektive des Übenden ein. Dem steht ein Fußtaster mit drei Schaltern - zurück, vor sowie Start/Stopp - zur Verfügung. So hat er die Hände frei für seine Tätigkeit und kann in seinem Tempo die Handgriffe einüben. „Nach dem zweiten beziehungsweise dritten Mal anschauen und tun, beherrscht man den Arbeitsvorgang, unabhängig vom Alter“, ist die Erfahrung der Filmer. Zudem verspricht die Industrie immer mehr Produktvarianten. So fehlt den Arbeitern die Routine bei den Arbeitsschritten. Mit den Utility Filmen gibt es keine Wissenslücken. Und: „Wir sind dort, wo Automatisierungslücken sind. Roboter können nicht alles abdecken.“

Auch zum Optimieren in der Entwicklungsphase wird das System angewendet. „Dabei geht es um Effizienz, denn bis zu 50 Prozent der Produktionskosten sind Montagekosten“, sagt Robert Rothenberger. Deshalb filmen er und seine Mitarbeiter nicht nur selbst, sondern bringen es anderen in ihrem Studio auch bei. Zig Einzelteile, Schrauben und Kabel liegen in blauen Plastikboxen bereit, um sie zu Demonstrationszwecken zu einem Werkstück zusammenbauen zu können.

Robert Rothenberger
Robert Rothenberger

Industrie 4.0: Die Firma memex entwickelte eines von 28 Leuchtturmprojekten

Der Wettbewerb „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ wurde vom Land ausgelobt, die Preisträger von Wirtschafts- und Arbeitsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut ausgezeichnet. 28 Unternehmen und Einrichtungen die Digitalisierungslösungen erfolgreich im Betriebsalltag umgesetzt haben, wurden prämiert. Dazu zählt auch die Dettinger Firma memex.

Die Netzwerkerinitiative „Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg“ will Kompetenzen aus Produktionstechnik sowie Informations- und Kommunikationstechnik bündeln, alle wesentlichen Akteure vernetzen und durch innovative Transferangebote den industriellen Mittelstand in Richtung Industrie 4.0 begleiten. Zur Allianz gehören Unternehmen, Kammern, Verbände, Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie Sozialpartner. Sie alle streben an, Baden-Württemberg als weltweit führende Region für Industrie 4.0-Technologien zu etablieren. Kleine und mittlere Unternehmen spielen dabei eine entscheidende Rolle und sollen von dem Zusammenschluss profitieren.

Die Allianz sucht mit dem Wettbewerb nach innovativen Konzepten aus der Wirtschaft, die mit der intelligenten Vernetzung von Produktions- und Wertschöpfungsprozessen erfolgreich sind. Neben dem Innovationsgrad bewertet die Expertenjury auch die konkrete Praxisrelevanz des Produkts. „Industrie, Mittelstand und Start-ups in Baden-Württemberg sind auf bestem Weg in die digitalisierte Zukunft“, ist Nicole Hoffmeister-Kraut überzeugt. ih