Weilheim · Lenningen · Umland

Lieber „Plus“ als plötzlich

Neue Zeltstadt: Die Gemeinde Dettingen nimmt deutlich mehr Flüchtlinge auf als sie muss

Bürgerversammlung in der Schlossberghalle: Am Dienstag ziehen 100 neue Flüchtlinge nach Dettingen. Dort entstehen derzeit drei weitere Unterkünfte, darunter die dritte Zeltstadt im Landkreis. Bürgermeister Haußmann wirbt dafür, im „Plus“ zu bleiben: Das wende Katastrophen ab.

Lieber „Plus“ als plötzlich
Lieber „Plus“ als plötzlich

Dettingen. Jetzt ist es doch passiert: In Dettingen wurde bis dato viel Wert auf die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen gelegt: Die bestehenden vier Unterkünfte sind kreuz und quer über die Gemeinde verteilt. Es wohnen nie mehr als 24 Menschen an einem Flecken. Mit der neuen Zeltstadt wirft die Gemeinde das Vorhaben vorerst über Bord: Im Gewerbegebiet werden Schlafplätze für 100 Flüchtlinge geschaffen, auf engstem Raum. Am Dienstag ziehen die Menschen dort ein. „Es lässt sich nicht mehr vermeiden“, sagt Ordnungsamtsleiter Sascha Krötz.

Die Pläne für die Notunterkunft stellte Bürgermeister Haußmann jetzt bei einer Bürgerversammlung in der Dettinger Schlossberghalle vor. Außer der Zeltstadt werden noch zwei weitere Unterkünfte für Anfang 2016 vorbereitet: Mit dann 160 zusätzlichen Flüchtlingen liegt die Gemeinde deutlich über ihrem „Soll“ – das ist Strategie.

„Irgendwann kommt jeder dran“, erklärt Rainer Haußmann: Jede Gemeinde im Land habe eine Quote, die sie erfüllen muss. „Und wer im Plus ist, hat eher die Möglichkeit, dezentrale Unterbringung für die Zukunft zu organisieren.“ Bei anderen Gemeinden sei hingegen schnell die Sporthalle weg. Dettingen ist jetzt gut im Plus, so Haußmann: In der 5 500-Einwohner-Gemeinde werden Anfang 2016 circa 220 Flüchtlinge wohnen. Nach aktuellem Stand müsste sie eigentlich nur 113 aufnehmen.

Für die Zeltstadt bekommt Dettingen eine Hundert-Prozent-Kraft der AWO zur Verfügung gestellt: Lisa Luther kümmert sich um Organisatorisches und die Probleme der Flüchtlinge auf dem Gelände. Außerdem hat der Gemeinderat entschieden, quasi aus eigener Tasche eine weitere Hauptamtliche der Bruderhausdiakonie einzustellen, die vor allem das Ehrenamt in der Gemeinde koordiniert, sich aber auch um die Flüchtlinge vor Ort kümmert. Der AK Asyl in Dettingen wächst stetig: „Bis jetzt hat die Koordination immer irgendwie geklappt“, erzählt Pfarrer Daniel Trostel vom Arbeitskreis: „Aber langsam merken wir, dass wir an unsere Grenzen kommen.“

Im Gewerbegebiet laufen die Bauarbeiten unterdessen auf Hochtouren. Zwei Zelthallen werden dort nebeneinander aufgestellt: Eine à 600 Quadratmeter zum Schlafen, eine zweite, kleinere für die Versorgung – heißt: Aufenthaltsraum, Küche, Waschmaschinen und ähnliches. Die erste ist schon fertig.

Die Notunterkunft ist ein „fliegender Bau“– zurzeit ist sie für die nächsten sechs Monate genehmigt. Die Privatsphäre in den Zelten ist sehr begrenzt: „Im Moment tragen wir vor allem Sorge dafür, dass keiner auf der Straße steht“, erklärt Thomas Eberhard vom Landratsamt in Esslingen. Was danach passiert, weiß keiner. Sicher ist nur: Die hundert neuen Flüchtlinge kommen nächste Woche. Egal, ob bis dahin alles fertig ist oder nicht. Jeder Regentag in den vergangenen Wochen hatte den Arbeiten einen gehörigen Dämpfer verpasst.

Trotz des Chaos‘ herrscht in Dettingen Besonnenheit: Viele Bürger loben bei der Aussprache in der Schlossberghalle den Gemeinderat ausdrücklich für seine Entscheidungen in der schwierigen Situation. Auch für das Geld, das die Gemeinde für die Koordinatorin fürs Ehrenamt investiert, wird viel Verständnis aufgebracht. Rainer Haußmann ermutigt die Dettinger zu Ehrlichkeit: „Wir müssen zulassen, dass es Fragen und Sorgen gibt. Hier wird keiner in eine Ecke gestellt.“ Die Gemeinde sei bei Problemen jederzeit erreichbar. Der Kontakt für das Büro in der Zeltstadt wird noch bekanntgegeben.

Hut ab, Dettingen!

Im Journalismus gilt die Regel, dass nur strittige Dinge kommentiert gehören. Unstrittig wundervoll war die Stimmung bei der Dettinger Bürgerversammlung. Kommentiert gehört es trotzdem: Pure Harmonie in einer chaotischen Zeit, in der das Internet oft nur noch Hass kennt. Das ist ungewöhnlich.

Nach der Veranstaltung wischten sich die Verantwortlichen bildlich den Schweiß von der Stirn, die Erleichterung war deutlich zu spüren: Alles nochmal gut gegangen. Man scheint auf Schlimmeres vorbereitet gewesen zu sein. Die schwierige Lage wird nicht in jeder Gemeinde so besonnen aufgefasst. Ein Ex-Dettinger berichtet von den chaotischen Zuständen in seinem neuen Zuhause im Kreis Göppingen: Eine Gemeinde ohne funktionierendem AK Asyl – das gibt‘s noch? In seiner Stimme lässt sich fast ein Hauch von Wehmut erahnen.

Die Dettinger scheinen bestens organisiert, sie haben Vertrauen in das, was Bürgermeister und Gemeinderat entscheiden. Viele drücken ihren Stolz aus. Einige auch ihre Bedenken: Sorgen wegen unbezahlbaren Wohnungen oder ihren kleinen Kindern. Das ist normal. Beeindruckend hingegen ist, dass diese Bedenken nicht verschwiegen, sondern offen angesprochen werden. Weil Verständnis da ist – für alle Seiten. Hut ab! MONA BEYER