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„Lücken müssen geschlossen werden“

NS-Zeit Die SPD beantragte eine Gedenktafel für vier engagierte Notzinger. Gemeinderat und Verwaltung haben jetzt aber beschlossen, erst die Historie umfassender erforschen zu lassen. Von Katja Eisenhardt

Am ehemaligen Hirschgebäude hätte die Gedenktafel angebracht werden sollen. Foto: Katja Eisenhardt
Am ehemaligen Hirschgebäude hätte die Gedenktafel angebracht werden sollen. Foto: Katja Eisenhardt

Der Gemeinderat Notzingens hat sich gegen eine Gedenktafel für ehemalige NS-Widerständler ausgesprochen. Doch von vorn: Im Oktober vergangenen Jahres hielt Wolfgang Kalmbach im Hirsch­saal einen Vortrag über vier Notzinger, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs standhaft Widerstand gegen die nationalsozialistische Bewegung „Deutsche Christen“ - einer rassistischen und antisemitischen Gruppierung innerhalb der evangelischen Kirche - leisteten. Kalmbach ist Vorstandsvorsitzender des „Arche“-Wohnverbunds in Notzingen und war außerdem als Religionspädagoge sowie im Oberkirchenrat tätig. Konkret ging es um die damalige Notzinger Lehrerin Irmgard Gräter, den jungen Vikar Siegfried Weller, Hirschwirtin Berta Niefer und Schreiner Gottlieb Barz aus Wellingen.

Die SPD-Fraktion des Notzinger Gemeinderats schlug daraufhin vor, dass die Gemeinde im Gedenken an die vier mutigen Widerständler eine Gedenktafel am ehemaligen Hirschgebäude, das zum Zentrum des Widerstands wurde - oder in unmittelbarer Nähe - anbringen solle.

Notzingens Bürgermeister Sven Haumacher hatte deshalb das Kreisarchiv Esslingen um eine Einschätzung der Vorgänge um die „Deutschen Christen“ in Notzingen während der NS-Zeit gebeten. Kreisarchivar Manfred Waßner kommt darin zu dem Schluss, dass die NS-Zeit in Notzingen und Wellingen bislang noch nicht grundlegend wissenschaftlich aufgearbeitet ist. So gebe es keinen vollständigen Überblick über NS-Opfer aus der Gemeinde oder auch zu den Gegnern des NS-Regimes, die sich auf unterschiedliche Weise engagierten und auf verschiedenen Ebenen aktiv wurden. Die vier genannten Akteure seien dabei ein Anfangspunkt für die weitere Forschung. Dafür müsste man laut des Kreisarchivars die breit vorhandene Überlieferung in den staatlichen, kirchlichen und kommunalen Archiven systematisch auswerten.

Der Gemeinderat diskutierte auf dieser Grundlage ausführlich, wie man in Sachen Gedenktafeln weiter verfahren könne. Bürgermeister Sven Haumacher sprach sich für eine weiterführende Recherche aus, damit letztlich niemand ebenso Engagiertes vergessen werde und die aktuellen „Lücken in der Forschung geschlossen werden“. Zudem gab er zu bedenken, ob es sich in Sachen möglicher Anbringung einer Gedenktafel nicht eher um eine innerkirchliche Angelegenheit handle.

Diesem Vorschlag stimmte der Gemeinderat mit Ausnahme von Ulrich Blattner (SPD) zu. Stattdessen sprach sich das Gremium mit nur einer Gegenstimme von Manfred Blessing (UKW) für die umfassende Erforschung der Historie aus. Sobald diese Ergebnisse vorliegen, soll dann entschieden werden, in welcher Form man allen Opfern, Verfolgten und Gegnern des NS-Regimes aus dem Ort gedenkt.

NSDAP-Trio zog einst durch die Gemeinde

In Notzingen tobte 1938/39 ein gewaltiger Kirchenkampf. Ortspfarrer war von 1932 bis 1939 Gustav Schaible, der der nationalsozialistischen Bewegung „Deutsche Christen“ angehörte. Zum NSDAP-Trio der Gemeinde zählten neben Pfarrer Schaible zudem Schulleiter und Ortsgruppenleiter Paul Gros und Bürgermeister Albert Grötzinger. Pfarrer und Schulleiter zogen abends durchs Dorf und warben für den Wechsel von der Landeskirche zu den Deutschen Christen. Die Beschwerden beim Oberkirchenrat häuften sich, schließlich schickte dieser Vikar Siegfried Weller, einen Mann der „Bekennenden Kirche“ nach Notzingen. Keine der kirchentreuen Familien wagte es, ihm eine Unterkunft zu gewähren - bis auf Schreiner Gottlieb Barz aus Wellingen, ein mutiger Christ und Sozialdemokrat. Zudem verteilte er nachts Flugblätter des Landesbischofs, in denen dieser die Reichspogromnacht verurteilte, und hängte Hetzplakate gegen Christen ab.

Zu Beginn des Jahres 1939 traten innerhalb einer Woche 36 Familien aus der Kirche aus. Lehrerin Irmgard Gräter organisierte fortan gemeinsam mit Vikar Siegfried Weller - ihrem späteren Ehemann - den Widerstand. Regelmäßig kam man im Gasthaus Hirsch zusammen. Immer mit von der Partie: Wirtin Berta Niefer. Sie lieferte wichtige Informationen, kannte die NSDAP-Spitzel und warnte die anderen. Wie Irmgard Weller (geb. Gräter) in einem späteren Interview mit Wolfgang Kalmbach berichtete, sei Schulleiter Paul Gros zwiegespalten gewesen: Einerseits NSDAP-Mitglied, andererseits habe er sie gedeckt, als sie im Religionsunterricht Texte des Alten Testaments behandelte, die die Nazis verboten hatten. Zudem habe er Infos aus der Partei weitergegeben, um den Vikar zu warnen.

Mit der Zeit spitzte sich der Kirchenkampf und die damit verbundenen Gefahren für die Widerständler immer mehr zu. Am 20. März 1939 beschloss der Kirchengemeinderat einstimmig, dass die Stellung des Nazi-Pfarrers Schaible in der Gemeinde untragbar geworden sei. Im Mai 1939 wurde er durch den Oberkirchenrat zwangsweise und vorzeitig in den Ruhestand versetzt. eis