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Luther macht Schluss mit Punktesammeln

Prälat i.R. Paul Dieterich spricht über die „Freiheit eines Christenmenschen“

Warum wollte ein Iraner getauft werden? „Im Christentum gibt es Freiheit“, sagte er zu Pfarrer Jochen Maier. Doch was macht die „Freiheit eines Christenmenschen“, von der Martin Luther im Jahr 1520 schrieb, aus? Darüber sprach Prälat i.R. Paul Dieterich zum Reformationstag.

Kirchheim. Rund 60 aufmerksame Zuhörer waren der Einladung des Evangelischen Bildungswerks in den Chor der Kirchheimer Martinskirche gefolgt. Für sie hatte Dieterich zuerst eine Warnung: vor dem feinsäuberlichen Trachten nach äußerlicher Korrektheit, das die Menschen unfrei macht. Jesus sprach dazu sehr bildlich von denen, die Mücken aussieben und zugleich Kamele verschlucken.

Viele fromme Christen häuften zu Luthers Zeiten gute Werke auf irgendein himmlisches Konto – in der Hoffnung, damit nach dem Tod vor Gott bestehen zu können. Für sie war Luthers Erkenntnis von der Gnade Gottes, so Dieterich, „eine grandiose Befreiung“. Die Zeiten haben sich geändert. „Wir sind nicht mehr so religiös, dass wir unser Leben als Vorstufe des ewigen Lebens ansehen, als eine Art Punktesammeln für den Jüngsten Tag.“

Aber folgt nicht heute aus der Haltung, die eigene Existenz aus der eigenen Leistung zu rechtfertigen, jener Konkurrenzkampf, der womöglich schon im Kindergarten beginnt? Wo ist da die Schonung des Schwachen? Klingt da das christliche Ideal „Einer trage das anderen Last“ nicht merkwürdig weltfremd? Die Konkurrenz der Firmen und Mitarbeiter untereinander wird immer härter. „Ein Europa des Wettbewerbs ist zerrissen in Sieger und Unterlegene, in Nord und Süd. Ganz zu schweigen von Ländern in Afrika, die in diesem System allenfalls als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte eine Rolle spielen.“ Im Sport sind die Olympischen Spiele „nicht mehr Spiele, zu denen sich die Jugend der Welt trifft, sondern religiös aufgeladen, Hochämter globaler Leistungsreligion“.

Laut Dieterich geht es mit Luther nicht mehr darum, „durch gute Werke unser Dasein vor Gott oder den Mitmenschen oder vor uns selbst zu rechtfertigen“. Sondern darum, „froh und frei zu leben, als sei unsere gesamte Vergangenheit mit all ihren Defiziten ausgelöscht und als würde unser Leben gerade erst beginnen“. Für einen Mitteleuropäer, der das „Selbst ist der Mann“ verinnerlicht habe, sei das schwer anzunehmen – oder für die Schwäbin, die stolz ihr „I be neamert nex schuldig“ vertrete.

Wer sich ohne Leistung von Gott rückhaltlos geliebt wisse, bekomme Lust, seine Gaben und Kräfte für andere einzusetzen. Auch im Beruf. „Gott dient durch deine Arbeit im Beruf anderen Menschen und hilft ihnen im weitesten Sinn zum Leben.“ Dass Bäcker und Arzt, Lehrer und Koch, Hausfrau und Automechaniker im Sinne Luthers „ehrliche Arbeit“ tun, ist für Dieterich keine Frage. Ob das auch für den Chef eines Spielkasinos, den Waffenfabrikanten oder die Bardame gilt, darüber ließ er gerne im Religionsunterricht seine Schüler diskutieren, mit interessanten Antworten.

Wer wie Luther über sein Tun und Lassen nachdenke, betonte Dieterich, der habe auch die Freiheit, bei Überlastung ein Nein zu sagen. „Luther war kein ethischer Idealist, der Märtyrer der Arbeit verehrt. Christen, die wie Luther denken, werden tun, was ihnen möglich ist. Und sie werden immer damit rechnen, dass Gott außer uns Millionen von Menschen hat, mit denen er das tun kann, was wir nicht fertig bringen.“

Schaffen wir das also? Wenn einer, der sich mit vollen Kräften für Flüchtlinge eingesetzt hat und erschöpft ein „wir schaffen es nicht“ sagt, kann Dieterich das akzeptieren. Wenn das aber einer sagt, der bisher noch gar nichts getan hat, dann überhaupt nicht. Er ist auch nicht einverstanden, wenn mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre Kirche und Politik auseinandergerissen werden. „Eine gewisse Schizophrenie zwischen ihrer Existenz als Christ und als gehorsamer Diener ihres Staates kann man bei lutherischen Christen gelegentlich schon feststellen.“

Luther als ein Fürstenknecht? „Das ist purer Unsinn. Wenige Menschen im 16. Jahrhundert waren so sehr politisch engagiert wie Luther. Kaum einer hat den Fürsten, wenn sie Unrecht taten, so ungeniert die Leviten gelesen wie er.“