Weilheim · Lenningen · Umland
Messie-Syndrom: Leben mit dem Chaos

Hilfe Schätzungen zufolge leben in Deutschland über zwei Millionen Menschen mit dem Messie-Syndrom. Die meisten von ihnen stammen aus der Mittelschicht. Was heißt es, wenn sich die innere Unordnung nach außen kehrt? Von Matthäus Klemke

Arbeitseinsatz für Viola Hamperl: Sie schnürt die Stahlkappenschuhe, zieht ihre rote Arbeitsjacke an und steckt ein paar Latexhandschuhe in die Arbeitshose. Auch der Mundschutz darf nicht fehlen – nicht nur coronabedingt. Viola Hamperl ist Teil des fünfköpfigen „Wabe“-Teams des Kreisdiakonie-Verbands im Landkreis. Vor sechs Jahren hat sich der Fachdienst auf die Betreuung von Menschen spezialisiert, die in vermüllten, desorganisierten Haushalten leben – im allgemeinen Sprachgebrauch auch „Messies“ genannt. „Es geht darum, eine Wohnung wieder bewohnbar zu machen“, erklärt „Wabe“-Fachbereichsleiter Stefan Leidner.

„Eine Wohnung spiegelt die Seele eines Menschen wider“, sagt Mitarbeiter Kai Nowak. Viele der Klientinnen und Klienten haben eine massive Suchtproblematik, Missbrauchserfahrungen oder sind aus anderen Gründen traumatisiert. Deshalb ist es mit einem Entrümpeln der Wohnung nicht getan. „Das Aufräumen beginnt zunächst im Inneren des Betroffenen“, berichtet „Wabe“-Mitarbeiterin Monika Moll. Die Menschen finden Nähe und Geborgenheit in den Dingen, die sie umgeben. Doch wann wird aus einer Sammelleidenschaft eine Zwangsstörung? „Wenn die Dinge einen beherrschen und nicht andersrum“, sagt Stefan Leidner. Für das „Wabe“-Team gilt es, den Verlust des Wohnraums unter allen Umständen zu verhindern. „Eine Räumung ist absolut traumatisierend für die Leute“, erklärt Leidner. 

 

Die meisten schämen sich
für die Art und Weise, wie sie wohnen.
Viola Hamperl
Sozialarbeiterin bei „Wabe“
 

Sozialarbeiterin Viola Hamperl ist auf dem Weg zu Patrick O. (Name redaktionell geändert). „Die Wohnung gehört zu den schwierigeren Fällen“, sagt Hamperl. Der 56-Jährige lebt seit 44 Jahren in der Drei-Zimmer-Wohnung. Er leidet unter einer extremen Kaufsucht, hortet seit Jahren Sachen daheim. Doch nun muss entrümpelt werden, eine Sanierung steht an. Zudem ist seit Wochen die Heizung kaputt, Handwerker weigern sich jedoch, die Räume im aktuellen Zustand zu betreten.

Ausgerüstet mit einigen Müllsäcken klingelt Hamperl an der Haustür. Der Mann, der die Tür öffnet, wirkt weder ungepflegt noch hilfsbedürftig. So wie viele Menschen mit Messie-Syndrom lebt Patrick O. außerhalb seiner Wohnung ein unauffälliges Leben. Bei der Arbeit genießt er den Kontakt mit anderen Leuten, eine Freundin hat er auch. Doch zu Hause bleibt Patrick O. in der Regel für sich allein. „Ich würde gerne ab und zu jemanden einladen. Aber so, wie es hier aussieht, geht das nicht.“

Hinter der Tür, die sich nur schwer öffnen lässt, verbergen sich große Haufen Wäsche. An den vielen Hemden, T-Shirts und Hosen hängen noch immer die Preisschilder. Ein Durchkommen bis zur Couch ist kaum möglich. Der ganze Raum ist vollgestellt mit Getränkeflaschen, Elektrogeräten, Küchenutensilien, Bücher und CDs – eine Logik hinter dem Chaos ist nicht zu erkennen. Patrick O. nimmt in seinem Wohnzimmersessel Platz. Wie eine schützende Mauer türmen sich die Dinge um ihn herum. Der 56-Jährige macht nicht den Eindruck, als fühle er sich unwohl – im Gegenteil: Die Gegenstände um ihn herum scheinen ihm auch eine Art Sicherheit zu vermitteln. „Ich muss zugeben, dass ich es nicht ganz unangenehm finde, diese Dinge um mich herum zu haben“, sagt Patrick O.. Über hundert volle Müllsäcke hat er zusammen mit Viola Hamperl schon aus der Wohnung getragen. 

An welchem Punkt genau er die Kontrolle verloren hat, kann Patrick O. nicht sagen. Mit Anfang 20 beginnt sein Leben aus der Bahn zu geraten. Während er in Bamberg BWL studiert, kriselt daheim die Ehe seiner Eltern. Schließlich verlässt der Vater die Familie. Patrick O. wird alkoholkrank und bricht das Studium ab.

 

Es ist eine Ersatzbefriedigung
für ein verpfuschtes Leben.
Patrick O.
leidet unter dem Messie-Syndrom

 

Aus eigenem Antrieb heraus schafft er es, mit dem Trinken aufzuhören, doch die Sucht verlagert sich. „Ich wurde kaufsüchtig. Es fing an mit Klamotten.“ In den Kleiderschränken ist schon bald kein Platz mehr. Etwas wegzugeben kommt aber nicht in Frage. „In dem Moment, in dem ich mir etwas gekauft habe, hat es mir ein Glücksgefühl verschafft. Und dann soll man diesen Gegenstand einfach wegwerfen?“ Mittlerweile beschränkt sich seine Kaufsucht vor allem auf Lebensmittel. 

Als Patrick O. seine Mutter verliert, verschlimmert sich die Situation. Mit ihr stirbt seine wichtigste Bezugsperson. Allein der Gedanke daran, sich von Dingen zu trennen, die ihr gehört haben, fällt ihm schwer. „Auf der einen Seite möchte ich alles weghaben. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht einmal vorstellen, eine Tasse von meiner Mutter wegzuwerfen.“

Patrick O. wird klar, dass er das Problem alleine nicht in den Griff bekommt. „Ohne die Leute von ,Wabe’ wäre hier gar nichts passiert.“ Einmal pro Woche kommt Sozialarbeiterin Viola Hamperl für ungefähr zwei Stunden vorbei. „Mehr kann man den Menschen oft nicht zumuten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann sehr belastend sein“, sagt Hamperl.

Zusammen wollen sie nun die Küche in Angriff nehmen. Getränkedosen, Einmachgläser, Töpfe und Plastikgeschirr stapeln sich. Der Herd funktioniert schon seit Jahren nicht mehr. „Dabei habe ich früher wirklich gerne gekocht“, sagt Patrick O.

Das Ausräumen der Regale läuft langsam ab. Beim Messie-Syndrom handelt es sich um eine sogenannte Wertbeimessungsstörung. Patrick O. hat Schwierigkeiten, damit zu entscheiden, was einen Nutzen hat und was nicht. Bei „Wabe“ entscheidet der Klient, von welchen Gegenständen er sich trennt. Ohne seine Zustimmung wirft Viola Hamperl nichts weg. Am Ende des Tages kann die Sozialarbeiterin vier volle Müllsäcke mitnehmen.

 

111 Betroffene aus dem gesamten Landkreis Esslingen hat das fünfköpfige „Wabe“-Team allein im Zeitraum zwischen Januar und September 2021 betreut. Doch es fehlen die Mittel, um den kompletten Bedarf abzudecken.