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Mission Tonnentauchen

Foodsharing hat schon drei Millionen Kilo Essen gerettet – 2016 startet Initiative in Kirchheim

Die Plattform Foodsharing ist in jeder großen Stadt vertreten – ihr Berliner Mitgründer Raphael Fellmer bringt sie jetzt nach Kirchheim: Lebensmittelretter verknüpfen sich regional und nehmen Läden ab, was sonst in der Tonne landet.

Wiebke Aszmutat (links), Raphael Fellmer (rot) und Daniel Hughes (rechts) wollen Foodsharing in Kirchheim starten. In der Linde
Wiebke Aszmutat (links), Raphael Fellmer (rot) und Daniel Hughes (rechts) wollen Foodsharing in Kirchheim starten. In der Linde trifft die Gruppe erste Vorbereitungen. Im Januar soll's losgehen.Fotos: Jean-Luc Jacques (oben)/Genio Silviani

Kirchheim. Müll ist nicht gleich Müll. Foodsharing-Mitgründer Raphael Fellmer und „Ganz unter Teck“ betrachten mit Sorge, was derzeit Alltag in vielen Haushalten und Läden ist: Dinge, die noch gut auf den Teller können, landen stattdessen in der Tonne. Dass das nicht sein muss, wollen sie in Kirchheim verbreiten.

„30 bis 50 Prozent der Lebensmittel werden in Europa verschwendet“, erklärt Raphael Fellmer: Das Problem geht von der Discounter-Kette über den Gütlesbesitzer bis zum Normalverbraucher, der Äpfel mit Macke nicht mehr essen möchte. Um einen Teil davon zu retten, starten sie im Januar eine eigene Foodsharing-Initiative für Kirchheim und Umgebung. Sie nehmen, was kein anderer will und verteilen es weiter – online und offline.

Foodsharing hat wenig mit Hilfe für Bedürftige zu tun. Vielen fällt es schwer, das zu glauben – der Stolz ist das Problem der Bewegung: „Die Leute müssen kapieren, dass man nicht arm sein muss, um Essen anzunehmen und weiterzuverteilen“, sagt Fellmer: „Das kann jeder machen, dann läuft‘s auch!“ Für ihn ist das der große Unterschied zu den Tafeln. Bei Foodsharing ist es nicht mal falsch, erst sich selbst zu bedienen und den Rest im Netzwerk zur Abholung anzubieten.

Die Plattform ist deutschlandweit im Internet organisiert. Inzwischen sind auf der Seite 100 000 Menschen angemeldet, die übrig gebliebene Lebensmittel an andere verschenken und selbst danach suchen. 10 000 davon retten regelmäßig Essen in Läden. An 350 Verteilern – zum Beispiel offenen Kühlschränken – kann man sich die Lebensmittel abholen. Wer hinter den „Rettern“ eine Horde hungriger, wilder Hippies vermutet, irrt gewaltig: Die Plattform ist strengstens organisiert. Wer sich als Retter ausgibt, hat eine Art Kodex zu befolgen, der das Image des Netzwerks bewahren soll. „Alles, was im Namen von Foodsharing passiert, bleibt an Foodsharing hängen. Der Ruf ist sehr viel wert“, erklärt Raphael Fellmer.

Hätte das Netzwerk ein schlechtes Image, würde die Zusammenarbeit mit den Läden nicht so gut funktionieren. Tatsächlich haben die Abholer mit vielen Geschäften eine so gute Beziehung, dass sie die Ware oft noch vor Ort in Spreu und Weizen trennen dürfen. Vom klassischen „Tonnentauchen“ sind die Aktivisten in Zeiten des Internets ein gutes Stück weggerückt. Raphael Fellmer selbst hat noch so angefangen – illegal, versteht sich.

Foodsharing hatte schon einmal seinen Weg nach Kirchheim gefunden, nicht aber in die Köpfe der Kirchheimer. „Wir waren damals einfach zu wenig Leute“, erklärt Wiebke Aszmutat von „Ganz unter Teck“. Im Mai 2014 hatte ihr Mitstreiter Daniel Hughes schon sämtliche Supermärkte der Umgebung abgeklappert, teils mit Erfolg. Dann wurde das Unternehmen ein Opfer der Sommerpause. „Für den Anfang brauchen wir mindestens zehn Leute, damals waren wir nur zu dritt“, sagt Aszmutat. 2016 wird alles anders. „Wenn wir für den Start genügend Leute zusammenkriegen, werden wir automatisch wachsen“, erklärt sie.

Beim „Kick-Off“-Treff im Kirchheimer Mehrgenerationenhaus Linde ist der zweite Startschuss für Kirchheim gefallen. Rund 15 interessierte Sammler haben Fellmer und Co schon zusammengetrommelt. Im nächsten Jahr soll es konkret losgehen; dann werden Abmachungen mit lokalen Händlern geschlossen und Abhol-Teams organisiert. Auch ein Verteiler-Kühlschrank soll in der Stadtmitte untergebracht werden: Dort kann jeder nehmen, was er will.

Laut Fellmer brauchen sich Läden keine Sorgen zu machen, dass ihnen die Kunden flöten gehen: „Die Konkurrenz ist eine Illusion: Von 40 Prozent verschwendeten Lebensmitteln wird noch längst nicht jeder satt.“ Er hätte noch nie von Abholer-Läden gehört, dass sie weniger verkauft hätten. Im Gegenteil: Viele Geschäfte seien stolz auf ihr Engagement und kleben sich einen Sticker an die Tür. Die Lebensmittel seien ja auch nicht umsonst fast im Abfall gelandet: Kaufen wollte sie niemand mehr.

Foodsharing ist für jedermann offen: Interessierte können sich unter www.foodsharing.de anmelden. Auch die Homepage von Raphael Fellmer gibt Auskunft: www.raphaelfellmer.de. Im Kleinen Stil tauschen Kirchheimer in der Facebook-Gruppe „Foodsharing Kirchheim unter Teck“ bereits Lebensmittel aus.

Foodsharing-Event in der Linde in Kirchheim
Foodsharing-Event in der Linde in Kirchheim

„Es ist hart, keinen festen Wohnort zu haben“

Du lebst seit fünf Jahren ohne Geld. Wieso hast du dich dafür entschieden?

RAPHAEL FELLMER: Das hat mit einer Segelbootfahrt von Holland über Afrika nach Mexiko angefangen. Meine Frau, ein paar Freunde und ich wollten herausfinden, wie es ist, ohne Geld zu reisen. Wir wollten sehen, wie in anderen Ländern mit Lebensmittelverschwendung umgegangen wird. Tatsache ist, dass das nicht nur ein europäisches Problem ist. Zurück in Berlin hab ich mich entschlossen, in den Geldstreik zu treten, meine Konten gelöscht und das letzte Geld verschenkt. Das war die logische Folge der Reise.

Als du deinen Geldstreik angefangen hast, gab‘s noch keine Foodsharing-Plattform. Wie hast du dich anfangs ernährt?

FELLMER: Ich habe aus der Tonne gelebt und die Lebensmittel teils auch weiterverteilt. Das hat leider sehr gut funktioniert: In Deutschland werden pro Jahr 20 Millionen Tonnen Essen weggeschmissen. Selbst bei Bio-Läden landet viel Essbares im Abfall. Nach zehn Monaten „Tonnen-Tauchen“ habe ich die Plattform Lebensmittelretter gegründet, später haben wir das mit Foodsharing zusammengelegt.

Wer kein Geld hat, kann auch keine Miete zahlen – Wo habt ihr die ganze Zeit gelebt?

FELLMER: Wir sind viereinhalb Jahre lang bei verschiedenen Menschen untergekommen. Die haben uns angeboten, dort zu wohnen und auch Strom und Heizkosten übernommen. Um unser Essen haben wir uns ja selbst gekümmert.

Hattest du nie das Gefühl jemand anderem auf der Tasche zu liegen?

FELLMER: Nein, überhaupt nicht. Natürlich haben die Menschen eine Menge für uns getan, aber sie haben sich wegen uns nicht weniger gegönnt. Die Leute mussten nicht sparen, weil wir da waren. Die haben das freiwillig gemacht.

Was ist das Schwierigste am Leben ohne Geld?

FELLMER: Am Ende war es sehr schwierig. Es ist hart, wenn man nicht wirklich einen festen Wohnort hat und sich ständig etwas Neues suchen muss. Besonders seit wir nicht mehr nur zu zweit, sondern eine kleine Familie sind.

Im November hast du deinen Geldstreik beendet und nimmst seither Honorare an. Ist das Projekt „geldfrei leben“ gescheitert?

FELLMER: Nein, ich würde eher sagen, dass ich mich geöffnet habe. Ich will in Zukunft nicht mehr so radikal sein und die Erfahrung auch anderen ermöglichen – dafür arbeite ich im Moment an einer weiteren Plattform, die Foodsharing internationaler machen soll. Ob ohne oder mit wenig Geld: Mein Ziel ist es, zu zeigen, was in dieser Welt alles möglich ist.

Du würdest anderen Leuten also trotzdem raten, dasselbe auszuprobieren?

FELLMER: Auf jeden Fall! Ich würde das geldfreie Leben jedem empfehlen – ob nur für eine Woche, einen Monat oder länger. Allerdings sollte die Entscheidung aus dem Herzen kommen. Jeder muss selbst wissen, wie er sich gut fühlt. Ich wollte mit meinem Projekt nie den Gutmenschen raushängen lassen oder andere belehren.

Was war deine wertvollste Erfahrung?

FELLMER: Beeindruckend war die bedingungslose Hilfe, die einem zuteil wird. Wenn es nicht mehr ums Geld geht, merkt man erst die Verbundenheit. Geld kann einen ziemlich manipulieren und von den eigenen Träumen abbringen. Man tendiert dazu, sehr auf Sicherheit bedacht zu sein. Das hält einen auf.

Vor ein paar Wochen bist du von Berlin ins Ländle gezogen. Im Frühjahr ziehst du mit „Ganz“ in eine Öko-WG in Kirchheim. Wie kommt‘s?

FELLMER: Daniel und Maria Hughes und meine Frau Nieves und ich teilen den Traum von einem gemeinsamen Öko-Dorf in Südeuropa. Der Schritt nach Kirchheim ist schon mal ein paar Kilometer in die richtige Richtung. Hier wollen wir zusammen ein nachhaltiges Hausprojekt auf die Beine stellen.

Du hast eine Tochter und einen kleinen Sohn. Wie finden die euren Lebensstil?

FELLMER: Meine Tochter Alma kriegt davon viel mit. Sie ist jetzt vier und geht in den Kirchheimer Waldkindergarten. Ihr ist es wichtig, vegan zu essen, weil sie Tiere liebt. Das vertritt sie auch selbstbewusst nach außen. Wenn uns zum Beispiel eine Socke fehlt, gehen wir keine neue kaufen, sondern organisieren eine. Das meiste gibt es ja schließlich schon irgendwo. Auch das leuchtet ihr total ein.FOTO: ACHIM FRANK