Kirchheim. Müll ist nicht gleich Müll. Foodsharing-Mitgründer Raphael Fellmer und „Ganz unter Teck“ betrachten mit Sorge, was derzeit Alltag in vielen Haushalten und Läden ist: Dinge, die noch gut auf den Teller können, landen stattdessen in der Tonne. Dass das nicht sein muss, wollen sie in Kirchheim verbreiten.
„30 bis 50 Prozent der Lebensmittel werden in Europa verschwendet“, erklärt Raphael Fellmer: Das Problem geht von der Discounter-Kette über den Gütlesbesitzer bis zum Normalverbraucher, der Äpfel mit Macke nicht mehr essen möchte. Um einen Teil davon zu retten, starten sie im Januar eine eigene Foodsharing-Initiative für Kirchheim und Umgebung. Sie nehmen, was kein anderer will und verteilen es weiter – online und offline.
Foodsharing hat wenig mit Hilfe für Bedürftige zu tun. Vielen fällt es schwer, das zu glauben – der Stolz ist das Problem der Bewegung: „Die Leute müssen kapieren, dass man nicht arm sein muss, um Essen anzunehmen und weiterzuverteilen“, sagt Fellmer: „Das kann jeder machen, dann läuft‘s auch!“ Für ihn ist das der große Unterschied zu den Tafeln. Bei Foodsharing ist es nicht mal falsch, erst sich selbst zu bedienen und den Rest im Netzwerk zur Abholung anzubieten.
Die Plattform ist deutschlandweit im Internet organisiert. Inzwischen sind auf der Seite 100 000 Menschen angemeldet, die übrig gebliebene Lebensmittel an andere verschenken und selbst danach suchen. 10 000 davon retten regelmäßig Essen in Läden. An 350 Verteilern – zum Beispiel offenen Kühlschränken – kann man sich die Lebensmittel abholen. Wer hinter den „Rettern“ eine Horde hungriger, wilder Hippies vermutet, irrt gewaltig: Die Plattform ist strengstens organisiert. Wer sich als Retter ausgibt, hat eine Art Kodex zu befolgen, der das Image des Netzwerks bewahren soll. „Alles, was im Namen von Foodsharing passiert, bleibt an Foodsharing hängen. Der Ruf ist sehr viel wert“, erklärt Raphael Fellmer.
Hätte das Netzwerk ein schlechtes Image, würde die Zusammenarbeit mit den Läden nicht so gut funktionieren. Tatsächlich haben die Abholer mit vielen Geschäften eine so gute Beziehung, dass sie die Ware oft noch vor Ort in Spreu und Weizen trennen dürfen. Vom klassischen „Tonnentauchen“ sind die Aktivisten in Zeiten des Internets ein gutes Stück weggerückt. Raphael Fellmer selbst hat noch so angefangen – illegal, versteht sich.
Foodsharing hatte schon einmal seinen Weg nach Kirchheim gefunden, nicht aber in die Köpfe der Kirchheimer. „Wir waren damals einfach zu wenig Leute“, erklärt Wiebke Aszmutat von „Ganz unter Teck“. Im Mai 2014 hatte ihr Mitstreiter Daniel Hughes schon sämtliche Supermärkte der Umgebung abgeklappert, teils mit Erfolg. Dann wurde das Unternehmen ein Opfer der Sommerpause. „Für den Anfang brauchen wir mindestens zehn Leute, damals waren wir nur zu dritt“, sagt Aszmutat. 2016 wird alles anders. „Wenn wir für den Start genügend Leute zusammenkriegen, werden wir automatisch wachsen“, erklärt sie.
Beim „Kick-Off“-Treff im Kirchheimer Mehrgenerationenhaus Linde ist der zweite Startschuss für Kirchheim gefallen. Rund 15 interessierte Sammler haben Fellmer und Co schon zusammengetrommelt. Im nächsten Jahr soll es konkret losgehen; dann werden Abmachungen mit lokalen Händlern geschlossen und Abhol-Teams organisiert. Auch ein Verteiler-Kühlschrank soll in der Stadtmitte untergebracht werden: Dort kann jeder nehmen, was er will.
Laut Fellmer brauchen sich Läden keine Sorgen zu machen, dass ihnen die Kunden flöten gehen: „Die Konkurrenz ist eine Illusion: Von 40 Prozent verschwendeten Lebensmitteln wird noch längst nicht jeder satt.“ Er hätte noch nie von Abholer-Läden gehört, dass sie weniger verkauft hätten. Im Gegenteil: Viele Geschäfte seien stolz auf ihr Engagement und kleben sich einen Sticker an die Tür. Die Lebensmittel seien ja auch nicht umsonst fast im Abfall gelandet: Kaufen wollte sie niemand mehr.
Foodsharing ist für jedermann offen: Interessierte können sich unter www.foodsharing.de anmelden. Auch die Homepage von Raphael Fellmer gibt Auskunft: www.raphaelfellmer.de. Im Kleinen Stil tauschen Kirchheimer in der Facebook-Gruppe „Foodsharing Kirchheim unter Teck“ bereits Lebensmittel aus.