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Nach der Wende ging‘s ins Freizeitbad

Zeitgeschichte Am Tag des Mauerfalls war André Schneider sieben Jahre alt. Zum 30. Jahrestag dieses Ereignisses hat der Wahl-Kirchheimer, der in Sachsen groß wurde, aber trotzdem viel zu erzählen. Von Thomas Zapp

Das war in seiner Kindheit ein begehrtes Spielzeug: André Schneider mit einem Bildbetrachter aus DDR-Produktion. Foto: Carsten R
Das war in seiner Kindheit ein begehrtes Spielzeug: André Schneider mit einem Bildbetrachter aus DDR-Produktion. Foto: Carsten Riedl
DDR, Autoschild
Autoschild der damaligen DDR. Foto. Markus Brändli

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, schalteten Millionen Deutsche ihre Fernsehgeräte ein, um die emotionalen Bilder live miterleben zu können. Der damals sieben Jahre alte André konnte das nicht, denn seine Familie hatte keinen Fernseher. Im sächsischen Mülsen in der Nähe von Zwickau spielte die große Politik an diesem Tag nur eine kleine Rolle, für den begeisterten Jungpionier André so gut wie gar keine. „Ich hab den Tag nicht bewusst wahrgenommen, ich kann mich nur erinnern, dass alle in unserem Ort sehr aufgeregt waren.“ Richtig gestaunt hat er dann wenige Tage später: „Als wir einen Ausflug in den Westen gemacht haben“, erinnert er sich fast auf den Tag genau 30 Jahre später bei einer Tasse Kaffee in einem Reihenhäuschen in Kirchheim. Hier lebt er seit etwa vier Jahren mit seiner Frau - einer Schwäbin - und zwei Kindern.

Der erste Ausflug in den Westen führte dann ins oberfränkische Hof - nicht gerade eine Weltstadt. „Für uns war es aber das Tor zur Welt. Dort gab es sogar ein Freizeitbad. Das hat später den Namen Sachsenwäsche bekommen, weil so viele von uns dahingefahren sind“, erzählt er lachend. Auch an den Menschenketten im Dezember 1989 nahm er mit seiner Familie teil. Die Leute wollten damals ein Zeichen setzen, dass die Reformen weitergehen und die Menschen weiter im Lande bleiben sollten, um die geplanten Reformen zur demokratischen Erneuerung auch umzusetzen. „Es gab ein Gefühl, dass da ein Vakuum herrscht“, erinnert sich André Schneider.

Mit sich und seiner Vergangenheit „im Osten“ vor, während und nach der Wende ist der 37-Jährige heute im Reinen, seine Kindheit bezeichnet er als glücklich. „Ich hab ja nicht verstanden, dass wir eingesperrt sind, ich hab als Kind nichts vermisst“, sagt er. Dass die Familie ein paar Mal im Jahr zum Telefonieren zum Nachbarn gehen musste, war eben normal. Der Nachbar war Bäcker und zudem stolzer Besitzer des einzigen Blaupunkt-Autoradios im Ort. Er hatte es in einem Brot eingebacken von einem Bäcker-Kongress in West-Berlin mitgebracht.

Schneiders Geschichte besteht aber nicht nur aus lustigen Anekdoten. Später hat er begriffen, dass man ständig kontrolliert wurde, auch als Kind. „In der Schule fragte uns der Lehrer, wer bei den Nachrichten eine digitale Uhr sieht und wer eine analoge“, erzählt er. Die analoge Uhr wurde im Westfernsehen eingeblendet, das Staatsfernsehen der DDR zeigte die Zeit digital an - so konnte der Lehrer später melden, welche Familie verbotenerweise West-TV schaut.

Schneiders Mutter verlor nach der Wende ihren Job beim Trabi-Hersteller „Sachsenring“. „Der wurde über die Treuhand abgewickelt, für einen Appel und ein Ei“, sagt André Schneider, ohne dass man Verbitterung heraushören könnte. Nach der Wende kamen noch andere Dinge zutage in seiner beschaulichen Mülsener Welt. Es stellte sich heraus, dass der Bäcker bei seinen Westreisen bespitzelt wurde. Ein anderer Betroffener hängte die ungeschwärzte Akte mit den Namen der Stasi-Mit- arbeitern an das Gemeindebrett.

André Schneiders eigener Vater war bei der Volkspolizei, auch er verlor seinen Job. Ob er weitere Tätigkeiten für die Staatssicherheit ausgeübt hatte, wurde in der Familie nie thematisiert. Bis heute hat André Schneider den Gang in das Stasi-Unterlagen-Archiv gescheut. „Dabei habe ich während meines Studiums in Magdeburg direkt neben einem der regionalen Archive gewohnt“, erzählt er. Aber: „Will man wirklich wissen, ob der eigene Vater IM war?“ So nannte man die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit.

Mit der Wende kam der Kapitalismus und damit die Zeit der Freiheit und Chancen, aber auch der Risiken und Verluste. „Niemand war da, der es einem erklärt hat“, sagt André Schneider heute. „Als ihnen ein Händler auf dem Wochenmarkt in Hof für ihren fast neuen Wartburg 1.3, einen der letzten je gebauten, 30 000 Mark angeboten hat, lehnten meine Eltern ab. „Die haben da so lange drauf gewartet, die konnten das nicht. Dabei hätten sie das Geld nehmen und für 500 Mark einen Golf kaufen können und den Rest anlegen. Aber auf Marktwirtschaft waren sie nicht trainiert.“ Andere aus seinem Dorf haben die Chancen dagegen ergriffen. Ein Landmaschinenhändler hat alte Maschinen aus dem Westen geholt und gut vor Ort verkauft. Der Betrieb florierte. Ihn gibt es heute noch.

In den Westen ist der studierte Mathematiker wegen des Jobs gegangen, die Löhne im Osten waren für einen Akademiker mit Familie zu niedrig - was ihn ärgert. Im Raum Stuttgart sind sie bei der Firma mit dem Stern untergekommen. Hier sind die vier glücklich, sie könnten es aber auch genauso gut im Osten sein, wie Schneider betont. Auch wenn sich dort einiges verändert hat. Wenn er in seine alte Heimat geht, wundert er sich manchmal, wie viele seiner Bekannten AfD wählen. „Dass hier in Schwaben der Anteil der Ausländer höher ist und man gut zusammen leben kann, das kriegen viele dort nicht auf die Reihe“, sagt er.

Mit seinen Kindern hat er noch nicht über die Wende gesprochen, aber das wird noch kommen. „Mir ist in diesen Tagen klar geworden, dass ich zur letzten Generation gehöre, die die Vorwendezeit noch bewusst erlebt hat.“ Und der Blick zurück ist frei von Zorn, nur eine Sache ärgert ihn: „Ich wollte immer zu den Thälmann-Pionieren, wie mein Bruder. Denn dort hat man ein rotes Halstuch bekommen.“ Dafür war André Schneider noch zu jung, als die Wende kam.