Weilheim · Lenningen · Umland
Pistolen, Löwen und das Klavier

Klassik Die 87-jährige Konzertpianistin Gunilde Cramer blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Besonders angetan war sie von der Neuen Musik. Von Rainer Kellmayer

Während ihrer langen Karriere als Konzertpianistin und Professorin an der Stuttgarter Musikhochschule war Gunilde Cramer eine gefragte Interpretin Neuer Musik. Im internationalen Konzertleben spielt die Pianistin zwar nicht mehr mit, doch heute ist die agile 87-Jährige ein Aktivpos­ten im regen Kulturleben Lichtenwalds. Seit 40 Jahren wohnt sie mit ihrem Mann in der Schurwaldgemeinde.

Die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik indes ist etwas in den Hintergrund getreten. „Ich bin zurückgekehrt zu meinen alten musikalischen Lieben“, erzählt Cramer. Heute stehen die großen Klavierwerke von Johann Sebas­tian Bach, Sonaten von Ludwig van Beethoven sowie Balladen und Intermezzi von Johannes Brahms auf ihren Programmen. Viele Konzerte hat sie im Bürgerzentrum Lichtenwald gegeben – solistisch, oft auch zusammen mit anderen Künstlern aus der Region. „Meist waren es Benefizkonzerte, deren Erlös sozialen Einrichtungen zufloss“, sagt Gunilde Cramer.

Gerne denkt die Pianistin an die literarisch-musikalischen Matineen zurück, die sie zusammen mit dem Schauspieler Ernst Specht gestaltet hat. „Wir haben uns stets besonderen Themenkreisen – beispielsweise dem Leben und Wirken von Wolfgang Amadeus Mozart – gewidmet.“ Getreu ihrem Motto „Musik hält jung“ pflegt Gunilde Cramer die vierhändige Klavierliteratur im Duo mit ihrem Mann Jost, den sie einst als Kommilitonen beim Musikstudium in Stuttgart kennengelernt hat.

Ein musikalisches Elternhaus

Die 1935 in Stuttgart-Heumaden geborene Pianistin wuchs in einem musikalischen Elternhaus auf. Schon mit fünf Jahren klimperte sie auf dem Klavier, als Siebenjährige erhielt sie den ersten Unterricht. „Das Instrument mit den weißen und schwarzen Tas­ten hat mich schon immer fasziniert“, erinnert sich Cramer. Schnell machte sie Fortschritte und gewann einige Klavier-Jugendwettbewerbe. Nach dem Abitur am Stuttgarter Mörike-Gymnasium führte der Weg an die Stuttgarter Musikhochschule, wo sie eine sehr fundierte Ausbildung genossen hat. Aufgrund herausragender Leistungen wurde die Pianistin 1958 in das Programm der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ aufgenommen, die hochbegabte Studierende fördert. „Die Stiftung hat mich sehr unterstützt“, erzählt Gunilde Cramer, die stets nach vorne strebte. So hat sie vor ihrem Konzertexamen, das sie 1962 in Stuttgart ablegte, noch drei Semester beim international renommierten Klavierpädagogen Bruno Seidlhofer in Wien studiert. Schon während des Studiums betreute sie vertretungsweise die Klavierklasse ihres Lehrers Professor Uhde an der Stuttgarter Musikhochschule. Ein Lehrauftrag folgte, und 1995 wurde Gunilde Cramer zur Professorin ernannt.

„Es war eine aufregende Zeit. Ich war auf Konzerttourneen in ganz Europa unterwegs“, erinnert sich die Pianistin. Sie hat in verschiedenen Ensembles gespielt, gab Meisterkurse und war in Rundfunk und Fernsehen präsent.

Besonders engagiert war Gunilde Cramer im Bereich der Neuen Musik. Sie hat zahlreiche Uraufführungen gespielt und mit international bedeutenden Komponisten wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet. Schon bald wurde der Süddeutsche Rundfunk auf sie aufmerksam: Bei Aufführungen neuer Musikwerke wirkte die Pianistin im damaligen SDR-Sinfonieorchester und bei anderen Produktionen mit.

Cramer erinnert sich an manch skurriles Erlebnis: „Ich musste auf bewusst verstimmten Klavieren spielen, und einmal verlangte der Komponist sogar, dass ich mit einer Pistole in den Flügel schießen solle.“

Viele aufregende Situationen hat sie in ihrer langen Musikerkarriere durchgestanden. „Bei der Fahrt zu einem Konzert habe ich die auf dem Auto abgelegten Penderecki-Noten vergessen. Der Fahrtwind blies die Notenblätter vom Dach und verwehte sie in alle Richtungen.“ Glücklicherweise sind im Archiv des Senders jedoch Duplikate aufzutreiben gewesen. Das aufregendste Erlebnis hatte Gunilde Cramer jedoch bei einem Auftritt in der Wilhelma: „Als ich vor einem Konzert im Zoo noch etwas holen wollte, öffnete ich eine Tür, und plötzlich sah ich mich einer Schar aufgeregter Löwen gegenüber.“

 

Die Neue Musik und ihre Besonderheiten

Historie „Neue Musik“ ist der Sammelbegriff für eine Fülle unterschiedlichster Strömungen der komponierten westlichen Kunstmusik von etwa 1910 bis zur Gegenwart. Die Neue Musik ist insbesondere durch – teils radikale – Erweiterungen der klanglichen, harmonischen und rhythmischen Mittel und Formen charakterisiert.

Komponisten In der Weiterentwicklung der Reihen-Kompositions­technik von Arnold Schönberg, Anton von Webern und Alban Berg (um 1910) haben Komponisten wie Olivier Messiaen, Ernst Krenek und Pierre Boulez neue Klangwelten erschlossen. In der Avantgarde (nach 1960) sind Luciano Berio, John Cage, György Ligeti und Wolfgang Rihm zu nennen.

Techniken Das traditionelle Hörerlebnis wird durch Modulationen instrumentaler und gesanglicher Techniken wie Flatterzunge, Multiphonics (Mehrklänge), Cluster, Glissandi und Growling (gleichzeitiges Spielen und Singen) erweitert. Eine besondere vokale Ausprägung ist der Scat-Gesang mit seinen abgehackten, rhythmisch pointierten Silbenfolgen. kell