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Politische „Agitation“ in allen Sälen

Kriegsende Kirche und Parteien streiten Ende 1918 um die Zukunft des Religionsunterrichts. Die Wirtschaft soll gestärkt werden, vor allem der Mittelstand. Gemeinden und Vereine helfen Kriegsheimkehrern. Von Andreas Volz

Geblieben ist nur die Figur des goldenen Adlers. Vor hundert Jahren verbarg sich dahinter der größte Saal Kirchheims.Foto: Carst
Geblieben ist nur die Figur des goldenen Adlers. Vor hundert Jahren verbarg sich dahinter der größte Saal Kirchheims.Foto: Carsten Riedl

Vor hundert Jahren war Kirchheim politisiert wie selten: „In Stadt und Land ist die Agitation für die kommenden Wahlen in vollem Gang“, heißt es am Montag, 30. Dezember 1918, im Teckboten. Noch hat „Agitation“ keinen abwertenden Beiklang, denn es ist die Deutsche demokratische Partei, die nach diesem Satz ihre eigene „Agitation“ ins beste Licht rücken will. Sie bemüht sich jetzt vorrangig um „die männliche und weibliche junge Wählerschaft“.

Um die Jugend geht es auch den evangelischen Christen. Im Nachbericht zu ihren Versammlungen ist am 30. Dezember zu lesen, „daß der konfessionelle, vom Lehrer und Pfarrer zu erteilende Religionsunterricht ein Schulfach im Rahmen des Lehrplans der Schule bleiben“ müsse. Das entspreche „dem wohlverstandenen Interesse des Staats, der seine besten Bürger immer in wirklich religiösen Persönlichkeiten gefunden hat“. Weniger dem Interesse des Staats dient die nächste Aussage: Der Staat habe der Kirche „aus den Einkünften des im Jahr 1806 eingezogenen Kirchenguts eine für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse ausreichende Rente und das Recht der Selbstbesteuerung zu gewähren“.

Auf der Frauenversammlung im Vereinshaus (heute Altes Gemeindehaus) stößt das auf „ungeteilte Zustimmung“. Bei der Männerversammlung im „Goldenen Adler“ sieht es anders aus. Den größten Saal Kirchheims hätte man wohl nicht benötigt für die evangelischen Männer, „deren Besuch angesichts der Wichtigkeit der erörterten Fragen leider zu wünschen übrig ließ“. Konstatiert wird immerhin eine „völlig grundsätzliche Zustimmung“.

Die Parteien sehen manches ganz anders: Von der Frauenversammlung der Sozialdemokratischen Partei im Lohrmannssaal ist am selben Tag zu lesen, dass Hauptlehrerin Elisabethe Zundel aus Reutlingen „die Ausmerzung des Religionsunterrichts aus dem Lehrplan der Volksschule“ fordert. Den bürgerlichen Parteien wirft sie vor, dass sie „durch ihre der vergangenen Obrigkeits-Regierung […] geleistete Gefolgschaft mit Schuld an dem so unendlich lange hinausgezögerten entsetzlichen Blutvergießen“ trügen. Außerdem bemängelt sie die „für die werktätigen Frauen so lückenhafte und völlig unzulängliche soziale Fürsorge“ und fordert eine „durchgreifende Verbesserung“.

Um den Mittelstand kämpft dagegen die Württembergische Bürgerpartei, der politische Arm der evangelischen Kirche. Dass sie sich für „deutsches Volkstum“ einsetzt, ist aus damaliger Sicht nicht ungewöhnlich. Abgrenzen möchte sich die Bürgerpartei „gegenüber dem Großkapitalismus einer- und dem Kommunismus andererseits“. Sie steht stattdessen „für Aufrechterhaltung eines kräftigen Kaufmanns-, Gewerbe-, Mittel- und Bauernstands“. Vor allem aber will sie „ein lebenskräftiges Christentum erhalten und gegen zersetzende Einflüsse verteidigen“.

Auf einer Versammlung der Deutschen demokratischen Partei fordert Handwerkskammersekretär Herrmann einen deutschen Staat, „in dem die Vorherrschaft Preußens endgültig aufgehört hat“. Andererseits beschreibt er drängende Gegenwartsprobleme: Staat, Bundesstaat und Gemeinden sollten den Mittelstand „durch Arbeitsbeschaffung unterstützen“, heißt es im Teckboten vom 2. Januar 1919. Hinzu komme „die Frage der Beschaffung von Rohstoffen und Halbfabrikaten für Industrie und Handwerk“. Hier hofft der Redner auf baldige Milderung, „da die Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums noch über gewaltige Mengen von Rohstoffen, Halb- und Fertigfabrikaten verfügt“. Zu bedenken sind allerdings noch „die ungeheuerlichen Transportschwierigkeiten“.

Erstaunlich ist, dass das Leben zu funktionieren scheint, denn der Krieg ist noch keine zwei Monate beendet. Der Verein „Schwäbisches Bürgerheim“, dem die Stadt Kirchheim als Mitglied beigetreten ist, „hat es sich zur Aufgabe gesetzt, bedürftigen Kriegsteilnehmern, welche sich kurz vor, während und nach dem Kriege verheiratet haben bezw. verheiraten werden, die erforderliche erstmalige Ausstattung in gediegener Ausführung zu angemessenem Preise und unter günstigen Zahlungsbedingungen zu vermitteln“.

Musik erleichtert „schweres Los“

Konkreter wird am selben Tag - Freitag, 3. Januar 1919 - von einem Fall aus dem Oberamt Kirchheim geschrieben: In Roßwälden gab es am letzten Sonntag im alten Jahr eine Feier für Kriegsheimkehrer. Einer davon war „der Kriegsblinde Georg Bauer“. Da er sich „sein schweres Los durch Musik zu erleichtern sucht, wurden ihm durch Gaben der Krieger und Festteilnehmer 200 Mk. zur Beschaffung einer Violine und Flöte übergeben“. Gedankt wird auf der Feier aber nicht nur den Soldaten, die ihr Leben für „die liebe Heimat“ einsetzten, sondern „auch den Frauen und Alten, die in Abwesenheit der Männer unter Einsatz aller Kräfte die landwirtschaftlichen Betriebe weiter bewirtschafteten und die nötigen Lebensmittel zum Durchhalten erzeugten“. Aber auch hier gilt der Blick letztlich einer demokratischen Zukunft, denn es ergeht die „Bitte und Aufforderung an die Krieger, an der Wiederaufrichtung der staatlichen Ordnung und Volkswirtschaft mitzuhelfen“.