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„Schweigen schützt nur die Täter“

Stadtarchiv und Stolperstein-Initiative wollen an Kirchheimer „Euthanasie“-Opfer erinnern

Die Kirchheimer Stolperstein-Initiative hat das Ziel, an Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Etliche Stolpersteine gibt es in Kirchheim bereits – für ehemalige jüdische Mitbürger, aber auch für einstige Zwangsarbeiter. Jetzt soll eine weitere Gruppe hinzukommen: die Opfer der „Euthanasie“.

In Grafeneck hat das Gedenken an die 10¿654 „Euthanasie“-Opfer des Jahres 1940 seinen festen Ort. Die Kirchheimer Stolperstein-I
In Grafeneck hat das Gedenken an die 10¿654 „Euthanasie“-Opfer des Jahres 1940 seinen festen Ort. Die Kirchheimer Stolperstein-Initiative will nun auch in der Teckstadt an Menschen erinnern, deren Leben vom Nationalsozialismus als „lebensunwert“ eingestuft wurde.Foto: Andreas Volz

Andreas Volz

Kirchheim. In Württemberg steht vor allem ein Ortsname für die organisierte Tötung von kranken und behinderten Menschen: Grafeneck. Kirchheims Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser hat zur dortigen Gedenkstätte Kontakt aufgenommen und eine Liste mit 30 Namen erhalten. Er geht aber davon aus, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Er rechnet mit bis zu hundert Menschen aus der Gegend um Kirchheim, die in Grafeneck ermordet wurden.

Über den offiziellen Weg lässt sich nicht jedes Opfer ausfindig machen. Und selbst wenn Namen bekannt sind, geht nichts ohne die Familie. „Die Angehörigen sind ganz wichtig“, betont Joachim Brüser. Archive dürften Daten – selbst an seriöse Gruppen wie Stolperstein-Initiativen – nur dann weitergeben, wenn ein Einverständnis der Familie vorliege.

Die Initiative – repräsentiert von Brigitte Kneher und Dr. Silvia Oberhauser – möchte ohnehin mit den Angehörigen ins Gespräch kommen, um gemeinsam Fakten über Leben und Sterben der „Euthanasie“-Opfer zusammenzutragen. Schon 1940, als in Grafeneck über 10  000 Menschen ermordet wurden, waren die Verbrechen systematisch verschleiert und vertuscht worden. Gerade deshalb geht es nun darum, möglichst viel Licht ins Dunkel zu bringen.

Eines der Ziele ist eine Veröffentlichung zu Einzelschicksalen – in Form von Stolpersteinen und einer erweiterten Neuauflage der Broschüre oder auch in der Schriftenreihe des Stadtarchivs. Vorabberichte im Teckboten sind ebenfalls denkbar. Sollten Angehörige einer Veröffentlichung kritisch gegenüberstehen, gibt es auch das Angebot, die Angaben vertraulich zu behandeln und sie lediglich im Archiv zu bewahren.

1940 hatte es noch keinerlei Vertraulichkeit gegeben, wenn es um Todesnachrichten ging. Aus Grafen­eck kamen standesamtliche Mitteilungen per Postkarte ins Kirchheimer Rathaus. Im Familienregister findet sich dann beispielsweise unter „gestorben“ der Eintrag „in Grafeneck“ und „30. Juli 1940“. Zusätzlich perfide war, dass das Sterbedatum oftmals gar nicht mit dem wirklichen Todestag übereinstimmte, wie Brigitte Kneher erläutert: „Das wurde oft um 14 Tage nachdatiert. Dann mussten die Angehörigen 14 Tage länger für den Heimaufenthalt zahlen und damit letztlich die Ermordung finanzieren.“

Silvia Oberhauser betont, dass in Grafeneck nicht nur Kinder und Jugendliche umgebracht wurden, wie das landläufig immer noch vielfach angenommen wird. Es handelte sich bei den Opfern auch nicht ausschließlich um Schwerstkranke oder -behinderte, wie es offizielle Stellen damals – vermeintlich beschönigend – vermitteln wollten. „Euthanasie“, der „gute Tod“, ist ja gleichfalls nur eine grauenvolle Beschönigung der Tatsache, dass Menschen in den Gaskammern starben, weil ihr Leben als „unwert“ eingestuft wurde. „Viele der in Grafeneck Getöteten waren verheiratet und hatten Kinder. Oftmals hatten sie eine ganz normale Erkrankung, die psychiatrisch zu behandeln war. Wer länger als sechs Jahre in einer entsprechenden Einrichtung war, wurde nach Grafeneck deportiert“, sagt Silvia Oberhauser.

Die Liste im Stadtarchiv bestätigt das: Das jüngste der 30 namentlich bekannten Opfer aus Kirchheim und Umgebung war Jahrgang 1928. Aber auch 1858 taucht als Geburtsjahrgang auf. Die betreffende Person wurde also mit über 80 Jahren ermordet.

Einen wichtigen Grund, das Thema anzugehen, gibt Silvia Oberhauser grundsätzlich an: „Schweigen schützt nur die Täter, nicht die Opfer.“

Info

Wer Interesse daran hat, dass das Kirchheimer Stadtarchiv gemeinsam mit der Stolperstein-Initiative die Geschichte von Angehörigen, die in Grafeneck ums Leben kamen, wissenschaftlich aufarbei­tet, kann sich unter der Telefonnummer 0 70 21/5 71-4 00 oder unter der E-Mail-Adresse archiv@kirchheim-teck.de ans Archiv wenden. Brigitte Kneher ist unter der Telefonnummer 0 70 21/4 56 64 zu errei- chen und Silvia Oberhau­ser per E-Mail an s.oberhauser@t-online.de. Auch der Teckbote nimmt Informationen entgegen: telefonisch unter 0 70 21/97 50-22 oder per E-Mail an redaktion@teckbote.de.