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Sehnsucht nach den Sternen in Paris

Die Sommerreihe der Stadtbücherei bringt Frankreichbilder deutscher Schriftsteller nach Kirchheim

Burkhard Engel zitierte in der Kirchheimer Stadtbücherei eine ganze Reihe hochkarätiger deutscher Autoren und ihre Sehnsüchte na
Burkhard Engel zitierte in der Kirchheimer Stadtbücherei eine ganze Reihe hochkarätiger deutscher Autoren und ihre Sehnsüchte nach Paris.Foto: Deniz Calagan

Kirchheim. Alle Daheimgebliebenen konnten sich in der Kirchheimer Stadtbücherei auf eine literarische Phantasiereise begeben: Burkhard Engel vom Cantaton-Theater Erbach entführte sein Publikum nach Paris.

Lyrik und Prosa vieler namhafter deutschen Autoren hatte er sich ausgesucht, um zu zeigen, wie sie die französische Hauptstadt in ihren Werken sehen und darstellen. Häufig kommt es dabei zum Vergleich mit den deutschen Verhältnissen, und immer fällt dieser Vergleich aus deutscher Sicht sehr selbstkritisch aus. Paris jedenfalls macht dabei stets eine gute Figur.

Das würde in mehrfacher Hinsicht erklären, warum Paris im Programm als „Sehnsuchtsort und politisches Ideal“ bezeichnet wird. Von Deutschland aus betrachtet, sind die Freiheiten, die sich das französische Volk in mehreren Revolutionen erstritten hat, mehr als verlockend. Es lässt sich sehnsüchtig danach schielen, vor allem angesichts der deutschen Geschichte im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Allerdings bleibt die Frage ungeklärt, ob das Paris-Bild der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren nicht einer schönen Utopie huldigt und somit allenfalls eine stark verklärte Realität widerspiegelt.

„Sehnsucht nach Paris“ – so betitelt Georg Heym ein langes Gedicht, in dem er postuliert: „Wer je den Wind in seine Lungen trank, / Wenn rot die Türme Notre Dames erglänzen, / Er ist nach dir vor wilder Sehnsucht krank.“ Ähnlich unerklärlich (v)erklärt auch Klaus Mann seine Liebe. „Warum verliebt man sich in die Stadt Paris?“ fragt er zunächst. Und er findet am Ende die Antwort darauf, die für jeden Liebenden und für jedes Objekt der Begierde gilt, solange die Liebe nur echt und innig genug ist: „Man kann nicht umhin, es zu lieben.“

In Burkhard Engels Lesung begann bei Kurt Tucholsky – was kaum verwundert – das große Vergleichen der Realitäten zu beiden Seiten des Rheins. „Paris arbeitet – Berlin schuftet. Es wird hier vielleicht weniger organisiert – aber mehr getan“, stellte er im Mai 1924 fest. Und über allem liegt die vielgerühmte und -gepriesene „Leichtigkeit“. Tucholsky hat dafür ein eindrückliches Beispiel zu bieten: „Ich bin morgens mit der Flut der Angestellten in der Untergrundbahn gefahren, ich habe sie abends gesehen, wenn sie von der Arbeit zurückkamen – sie waren morgens eilig und abends müde, aber niemals in ihrer Gesamtheit so verärgert und stumpf, wie wir das kennen.“

Bei Friedrich Sieburg klingt die Beschreibung der Leichtigkeit noch viel mehr nach „savoir vivre“: Das Ideal sei nicht die Arbeit, sondern die Muße. Heilig sei die Mittagspause, weil auch hier gelte, dass die Arbeit nicht so wichtig sei wie ihre Unterbrechung. Dabei geht es aber nicht darum, dass Nachbarvolk als weniger fleißig zu verunglimpfen, sondern um die selbstkritische Reflexion und die deutsche Sehnsucht danach, sich endlich weniger in der Arbeit aufzureiben und doch auch einmal ein wenig „lockerer“ zu sein.

Weitaus lockerer als in Deutschland gehen in Paris sogar die Hunde mit den Katzen um. Sie werden „mit Erfolg zum Frieden erzogen“, schreibt Kurt Tucholsky hoffnungsvoll. Und Joseph Roth geht gar mit seiner eigenen Zunft – den deutschsprachigen Autoren – hart ins Gericht, wenn er schreibt: In Paris enthalten „die Kinoreklamen [...] mehr Phantasie und Psychologie als unsere modernen Romane“.

Fehlt natürlich noch Heinrich Heine. Raffiniert, aber doch überwiegend ironisch dreht er, von der Seine aus betrachtet, die Sehnsüchte um und dichtet „Anno 1839“: „Oh, Deutschland, meine ferne Liebe, / Gedenk ich deiner, wein ich fast!“ Das „leichte Volk“ in Paris wird ihm dabei sogar „zur Last“. Das hält aber nicht allzu lange an, denn an anderer Stelle bezeichnet er die Franzosen wieder als „meine lustigen Brüder“. Lustig ist deswegen auch der Lokalpatriotismus, den Heine in „Atta Troll“ einer gewissen „Juliette“ in den Mund legt: „Ich verbrachte fast die Hälfte / Jener Nacht auf dem Balkone. / Neben mir stand Juliette / Und betrachtete die Sterne.  //  Seufzend sprach sie: ,Ach, die Sterne / Sind am schönsten in Paris‘.“

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Und nachdem Burkhard Engel auf diese Weise beim Titel seines Rezitationsabends angelangt war, beließ er es auch dabei, seine treue Zuhörerschar mit diesen Worten in die Kirchheimer Nacht zu entlassen, um sehnsüchtig nach den Kirchheimer Sternen zu schauen.