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So wird Literatur plastisch

Ernst Konarek und Ernst Kies mit Ringelnatz beim Programm „Text und Töne“ in der Stadtbücherei

Sommerprogramm Stadtbücherei: "Nie bist Du ohne NebenDir", Texte und Gedichte von Joachim Ringelnatz, vorgetragen von Ernst Kona
Sommerprogramm Stadtbücherei: "Nie bist Du ohne NebenDir", Texte und Gedichte von Joachim Ringelnatz, vorgetragen von Ernst Konarek, am Akkordeon Ernst Kies

Kirchheim. Die Leiterin der Kirchheimer Stadtbücherei, Ingrid Gaus, zitierte bei der Begrüßung Alfred Polgar: „Dieser unvergleichliche Ringelnatz hat den Stein des Narren

Ulrich Staehle

entdeckt, welcher, wie wunderbar, dem Stein des Weisen zum Verwechseln ähnlich sieht.“ Ringelnatz passt in keine Schublade, dieser kleine Mann mit der großen Nase, der hartnäckig sozusagen im literarischen Untergrund weiterlebt. So vielschichtig und so vielfältig wie sein Werk ist seine Biografie.

1883 wird er bei Leipzig als Hans Bötticher geboren, schafft mit Mühe einen Realschulabschluss, fährt einige Jahre als Matrose zur See und übt danach unterschiedliche Tätigkeiten aus. Geschrieben hat er immer. Literarische „Ankerplätze“ waren sein Wirken beim Münchner „Simplizissimus“ und seine Auftritte beim Berliner Kabarett „Schall und Rauch“. Durch sie wurde er bekannt und reiste mit Soloprogrammen durch ganz Deutschland.

Von Ringelnatz sind allgemein nur sein Künstlername und einige Zitate im literarischen Bewusstsein. Am dritten Abend des Sommerprogramms „Text und Töne“ der Stadtbücherei gab es Gelegenheit unter dem Motto „Nie bist Du ohne neben Dir“ aus dem vollen Ringelnatzwerk zu schöpfen. Engagiert wurde dafür Ernst Konarek, ehemals Mitglied des Stuttgarter Staatstheaters und jetzt gefragter freier Künstler mit dem Schwerpunkt im Stuttgarter Theaterhaus. Das Engagement dieses Profis erwies sich als Glücksgriff. Konarek schüttete ein Füllhorn von Ringelnatztexten – hauptsächlich Gedichten – über dem begeisterten Publikum aus. Seinem Selbstverständnis nach ist er kein Rezitator, sondern bietet eine szenische Lesung, in der er, im Sitzen zwar, aber doch wirkungsvoll seine schauspielerischen Fähigkeiten in Gestik, Mimik und Stimmmodulation einsetzt. Er modelliert die Sprache. Dadurch gewinnt die oft skurrile Sprachartistik von Ringelnatz eine pralle Plastizität. Dazu trägt auch überraschenderweise Konareks österreichische Sprachbehandlung bei. Das gibt den Texten eine passende hintersinnige Grundierung. Eine szenische Lesung dieser Art reißt das Publikum mit.

Der Reigen der Texte begann mit Ringelnatz‘ eigenen autobiografischen „Streifzügen durch ein Leben“. Dann ging‘s ohne Pause in die poetische Welt eines Dichters, bei dem sich auch ein Nagel in eine Schraube verlieben kann, ein Meerschweinchen nach dem Meer fragt oder wortreich Abschied von Pellkartoffeln genommen wird, bevor man sie verspeist. Es gibt kein Lebewesen und keinen Gegenstand, der in seiner Poesie nicht lebendig werden könnte. Und es gibt keine menschliche Befindlichkeit, die nicht zur Sprache kommt. Einen besonderen Stellenwert hat die Liebe, die trotz eingestandener Untreue unsentimental bekannt wird. Bei Ringelnatz steckt da viel Autobiografie drin, hatte er doch mit Leonharda Pieper („Muschelkalk“) eine zuverlässige Lebenskameradin an seiner Seite.

Autobiografisch inspiriert ist auch ganz bestimmt die „Ode an Elisa“, trotz des Titels ein dialoggespickter Prosatext, der von der Not des freischaffenden Sprachkünstlers handelt. Der arme Schlucker wird von einem Hochstapler, der ein Geburtstagsgedicht, eine „Ode an Elisa“ bestellt, hereingelegt. Das ist ein empörender und bedrückender Lesetext – nein, ein Text von ironischer Leichtigkeit, wenn Konarek ihn darbietet.

Konareks Textauswahl ist geprägt durch die Variation von kurzen und langen, bitteren und heiteren Versen aus allen Schaffensperioden des Autors. Die Übergänge sind oft assoziativ. Es ist tröstlich, dass Ringelnatz bei aller Not, die das Leben mit sich bringt, das Leben auch preist („Morgenwonne“). Allerdings ist sein Ende nur bedrückend und mit dieser Nachricht musste auch der Abend enden: Er starb, von den Nazis mit einem Auftrittsverbot gebremst, 1934 mittellos im Alter von 51 Jahren an Tuberkulose. Der dauernde Kampf um die materielle Existenz und um seine Gesundheit hat ihn wohl zur Suche nach dem Stein des Narren beziehungsweise des Weisen angetrieben.

Ach ja, vor lauter Ringelnatz und Konarek darf der Künstler nicht vergessen werden, der für die Töne zuständig war. Ernst Kies gab seinem Partner durch seine musikalischen Zwischenspiele mit seinem Akkordeon Atempausen. Er bot in angenehmer gekonnter Weise Musik, die an Stationen von Ringelnatz erinnerten, eine Valse Musette, eine Münchner Wiesn‘ Musi, aber vor allem Seemannslieder, allen voran „La Paloma“, das Lieblingslied des weit gereisten Spaßpoeten.

Ernst Konarek trug Texte und Gedichte von Joachim Ringelnatz vor. Ernst Kies gab seinem Partner durch seine musikalischen Zwisch
Ernst Konarek trug Texte und Gedichte von Joachim Ringelnatz vor. Ernst Kies gab seinem Partner durch seine musikalischen Zwischentöne mit seinem Akkordeon Atempausen.Foto: Deniz Calagan