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„Soziale Isolation kann depressiv und körperlich krank machen“

Pandemie Professor Dr. Cornelia Kricheldorff warnt vor Kontaktsperren und Beschränkungen aufgrund des Alters.

Freiburg. Ist während der Pande­mie von älteren Menschen die Rede, dann geht es häufig darum, dass sie besonders geschützt werden müssen. Anke Kirsammer hat mit der Freiburger ­Professorin Dr. Cornelia Kricheldorff über die Folgen gesprochen.

Was hat es mit älteren Menschen gemacht, dass sie sich aus Vorsicht über weite Strecken isoliert haben?

Cornelia Kricheldorff: Zunächst möchte ich betonen, dass ältere Menschen in Bezug auf gesundheitliche, psychologische, soziale und ökonomische Dimensionen keine homogene Gruppe sind. Die Lebensphase Alter ist vielmehr geprägt durch eine ausgeprägte Unterschiedlichkeit. Deshalb sind generelle Aussagen schwierig – hier muss differenziert werden und genau das ist in der Pandemie zu wenig gemacht worden. Da wurden alle über 60-Jährigen zur Risikogruppe gemacht.

Viele Senioren engagieren sich bürgerschaftlich. Was bedeuteten die Kontaktbeschränkungen für sie?

Kricheldorff: Ältere Menschen sind beim ehrenamtlichen Engagement Akteure und Nutznießer zugleich. Dass Gruppenangebote oder Treffen nicht mehr stattfanden, leistete dem Rückzug Vorschub. Sich ehrenamtlich zu engagieren, ist sinnstiftend. Bricht das weg, kann auch das soziale Netzwerk brüchig werden. Einsamkeit aber ist eine Ursache körperlicher und psychischer Erkrankungen.

Welche Gruppe unter den Senioren hat besonders unter den Einschränkungen gelitten?

Die Gefahr von Distanz und Isolation statt Teilhabe und Unterstützung besteht verstärkt für ältere Menschen, die alleine leben und aus Angst vor Ansteckung das Haus kaum mehr verlassen oder ernsthaft erkrankt sind und sich nur begrenzt versorgen können.

Wie wirkt sich die Isolation aus?

Soziale Isolation kann nicht nur einsam und depressiv machen, sondern auch erhebliche körperliche und kognitive Schäden verursachen. Gründe dafür sind fehlende Bewegung, Mangelernährung, Flüssigkeitsmangel oder medizinische Unterversorgung. Davon betroffen sind auch ältere Menschen in vielen Anlagen des „Betreuten Wohnens“, das ja auf größtmögliche Autonomie setzt und Unterstützung nicht selten nur anbietet, wenn sie ausdrücklich angefordert wird.

Haben Sie denn eine Idee, wie sich gegensteuern ließe? Im Raum Kirchheim gibt es Vereine, die durch Ehrenamtliche „Betreutes Wohnen zu Hause“ ermöglichen.

Solche Angebote sind wichtig, denn es braucht soziale Netzwerke und das aktive Zugehen auf die Menschen. Hier kommt ambulanten Diensten, im Zusammenspiel mit ehrenamtlich Engagierten, eine wichtige Rolle zu.

Welche Rolle können dabei technische Assistenzsysteme spielen?

Sie haben während der Pandemie an Bedeutung gewonnen und können dazu beitragen, den Hilfe-Mix zu optimieren. Leider sind sie aber immer noch zu wenig im Blick. Oft fehlt es an der Ausstattung, und es gibt zu viele Vorbehalte. Digitale Geräte könnten besonders in Zeiten notwendiger Abschottung eine wertvolle Brücke zu wichtigen Menschen sein und Isolation und Einsamkeit entgegenwirken. Das gilt auch für Pflegeheime.

Menschen mit Demenz haben dort sicher ganz spezielle Bedürfnisse.

Absolut. Sie sind sehr sensibel für Stimmungen, und sie leiden besonders unter den Folgen sozialer Isolation. Deshalb braucht es – unter Beachtung von Abstands- und Hygieneregeln – auch in Pandemiezeiten ihre soziale Eingebundenheit. Hier gilt, wie in vielen anderen Bereichen, die Pandemie hat Herausforderungen, die es vorher schon gab, nur stärker sichtbar gemacht.

Was sollten wir aus den Erfahrungen der beiden vergangenen Jahre in Bezug auf den Umgang mit älteren Menschen lernen?

Es darf keine selektiven Kontaktsperren und Beschränkungen aufgrund des Alters mehr geben. Sonst besteht die Gefahr, dass diese defizitorientierte Sichtweise auf alte Menschen den öffentlichen Diskurs dominiert. Damit verbunden ist eine Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Ältere Menschen sind unverzichtbarer Teil der Gesellschaft. Als Großeltern, Partnerinnen und Partner, Berufstätige, ehrenamtlich Engagierte, Freunde und Konsumenten tragen sie erheblich zur Gesellschaft bei.

Forschungen zu gelingendem Altern

Cornelia Kricheldorff ist Diplom-Sozialgerontologin und Diplom-Sozialpädagogin. Die emeritierte Freiburger Professorin lehrt, forscht und publiziert zu Themen in der Sozialen Gerontologie. Aktuelle Bücher: „Gut vernetzt oder abgehängt – Gelingendes Altern in der digitalen Welt“, „Geragogik: Bildung und Lernen im Prozess des Alterns“ und „Diversität der Altersbildung – Geragogische Handlungsfelder, Konzepte und Settings“, alle erschienen im Verlag Kohlhammer, Stuttgart.

Laut Studien beobachteten knapp 70 Prozent der Angehörigen vermehrte psychische Symptome wie Depressivität und Einsamkeit von Pflege­bedürftigen, so Kricheldorff. ank