Weilheim · Lenningen · Umland
Spannender Blick in die Vergangenheit

Ortsgeschichte 100 Jahre Notzingen und Wellingen im Bild – das zeigt die neue von Notzinger Bürgern gestaltete Bildchronik, die den Wandel des Ortes von 1895 bis 1995 dokumentiert. Von Katja Eisenhardt

Wer weiß noch, dass in den 1920er-/30er-Jahren in der Notzinger Kelter geturnt wurde oder dass am Müllerweg drei deutsche Soldaten ihre letzte Ruhe fanden, nachdem sie von den Amerikanern in den letzten Kriegstagen 1945 im Notzinger Wald erschossen wurden? Dass es ein Milchhäusle in Wellingen gab, bei dem die Wellinger Bauern 1976 zuletzt ihre Milch ablieferten?

Das alles erfährt man beim Durchblättern der Bildchronik, und noch viel mehr. So zum Beispiel über die Geschichte der ­Notzinger Kelter, die heute ein italienisches Restaurant beherbergt. Die Ursprünge des ältesten Hauses im Ort reichen bis ins 15. Jahr­hundert zurück. ­„Anfang bis ­Mitte des 15. Jahrhunderts ­wurde die Kelter vom Ortsadel Speth von Tumnau gebaut und später an die Gemeinde verkauft“, erklärt ­Armin Hurler.

Gemeinsam mit Ursula Eberbach hat er in umfangreicher Recherchearbeit die Ortsgeschichte zwischen 1895 und 1995 zusammengestellt, Ursula Eberbach hatte zuvor schon einmal die Jahre 1900 bis 1950 beleuchtet und gut 100 Bilder aus dieser Zeit zusammengetragen. Warum nun gerade diese 100 Jahre? „Weil es aus der Zeit vor 1895 kaum Bilder gab, nach 1995 haben die meisten dann eigene Bilder zu Hause“, begründet Hurler die zeitliche Eingrenzung.

Tatkräftige Unterstützung bekamen die beiden Initiatoren von Helmut Strauß und Günter Deusch­le, die in Notzingen beziehungsweise Wellingen aufgewachsen sind und durch die eigene Familiengeschichte wichtige Infos und Materialien zur Ortshistorie beitragen konnten.

Dazu beteiligten sich zahlreiche weitere Bürger, indem sie den Chronisten Bildmaterial zur Verfügung stellten. Im Gemeindearchiv fand sich zudem Recherchematerial aus dem Bestand des ehemaligen Bürgermeisters Jochen Flogaus sowie des früheren Ortschronisten Siegfried Bader. So ist letztlich ein bunter historischer Rundumschlag entstanden, der die Ortsgeschichte wieder aufleben lässt.

So erfährt man etwa zur Kelter, dass Notzingen im Jahr 1566 fünf Morgen Weinberge besaß, 1842 waren es sogar 48 Morgen (12 Hektar). „Etwa 1885 wurde der Weinbau im Ort eingestellt, heute erinnert neben der Kelter nur noch das Gewann Wengert an den Weinbau am Bodenbach“, berichtet Helmut Strauß. Wie vielseitig die Kelter über die Jahrhunderte genutzt wurde, weiß Ursula Eberbach aus den Erzählungen eines 95-jährigen Nachbars: „Zwischen den beiden Weltkriegen diente sie als Turnhalle. Auch die Feuerwehr hängte dort ihre Schläuche zum Trocknen auf, der Bauhof war eine Zeit lang hier untergebracht, ebenso wie eine Gemeinschaftsgefrieranlage.“

Günter Deuschle erinnert sich noch gut an seine Kindheit im landwirtschaftlich geprägten Wellingen: „Als ich etwa fünf Jahre alt war, haben wir für die Haushalte und das Vieh noch mit Eimern und Leiterwagen Wasser aus den umliegenden Brunnen in Notzingen geholt. Wellingen war durch die Höhenlage - trotz der vielen Brunnen - von Wassernot besonders betroffen. Das waren lange Fußmärsche und hat zwei Tage gedauert, bis wir genug Wasser nach Wellingen hoch transportiert hatten.“ 1945 wurde die Wellinger Pumpstation, die 1905 eingeweiht wurde, bei einem Angriff der Amerikaner getroffen. „Rudolf Bidlingmaier hat dann unter dem Schutz der weißen Fahne mit seinem Schlepper und Riemen die Pumpen morgens und abends angetrieben“, erzählt Deuschle.

Geschichte in Anekdoten

Eine weitere Anekdote gibt es zu den Webern um 1890, die oft in den Kirchheimer Textilfabriken arbeiteten. Die Kinder brachten ihren Vätern jeden Tag das Essen in Schüsseln zu Fuß nach Kirchheim. In den 30er-Jahren übernahm dies Adlerwirt und Fuhrunternehmer Jakob Stark. Mit seinem Pferdegespann startete er in Wellingen, lud dort die ersten Essen ein, dann weitere in Notzingen, und täglich ging die Fahrt über die Steige nach Kirchheim. Parallel diente das Gespann von Jakob Stark bei Bedarf auch als Leichenwagen.

„Es gibt so viele interessante Geschichten aus dem Ort. Ich dachte mir schon länger, dass man das eigentlich mal aufschreiben oder bebildern sollte, bevor niemand mehr aus den älteren Generationen da ist, der noch erzählen kann“, sagt Armin Hurler. Allein schon von Helmut Strauß oder dem früheren Nachbarn Karl Kälberer habe er viel über die früheren Zeiten erfahren. Im Oktober 2020 begonnen, war das Werk an Ostern fertig. „Ich bin selbst Jahrgang 1943. Der im Buch sichtbare Wandel im Ort ist wirklich faszinierend“, findet Helmut Strauß.