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Spurensuche in Kirchheim

Ein Projekt des Netzwerks Neue Musik Baden-Württemberg greift in der Teckstadt

Matthias Kaul ist Kirchheims Stadtkomponist für die Umsetzung des neuen Projekts.Foto: Johannes Stortz

Matthias Kaul ist Kirchheims Stadtkomponist für die Umsetzung des neuen Projekts. Foto: Johannes Stortz

Kirchheim. Wie sieht das menschliche Miteinander in der Zukunft aus? Was sind die Perspektiven gerade in unserer Stadt? Mit dieser Fragestellung schickt das „Netzwerk Neue

Musik Baden-Württemberg“ einen Stadtkomponisten auf die Suche vor Ort, um gemeinsam mit Ensembles, verschiedenen Gruppierungen und anderen Interessierten Antworten darauf zu finden.

In Kirchheim stieß die Idee auf großes Interesse: „Neue Musik“ ist für viele ein spannendes Experimentierfeld. Die zeitgenössische Musik arbeitet mit der Verfremdung bekannter musikalischer Traditionen und völlig neuen Dimensionen klanglicher, rhythmischer und harmonischer Spektren.

Kooperationspartner vor Ort ist die Musikschule Kirchheim. Spontan sagten bisher viele Ensembles der Musikschule, der Chor Happy Voices, die Bastion und die Punkband „Problem System“ ihre Teilnahme zu. Die Proben für die Aufführung des Großprojekts, das am 8. Oktober in der Kirchheimer Innenstadt zu erleben sein wird, beginnen in Kürze. Neben der Teckstadt werden solche Veranstaltungen im Herbst in Blaubeuren, Bruchsal, Ellwangen, Sinsheim und Villingen-Schwenningen stattfinden.

Stadtkomponist für Kirchheim ist Matthias Kaul. Seine musikalische Karriere begann Matthias Kaul als Rock- und Jazzschlagzeuger. Nach dem Schlagzeugstudium in Hamburg beschäftigte er sich mit der Musik anderer Kulturen und bereiste zahlreiche Länder unter anderem in Afrika, wo er die Musik der Massai und Samburu kennenlernte. Tourneen führten ihn zudem durch ganz Europa wie auch nach Indien, Nord- und Südamerika, Korea und Japan. Kaul erhielt mehrfach Stipendien und Auszeichnungen für seine Musik.

Matthias Kaul hat das Komponieren autodidaktisch erlernt und durch das Mitwirken an über 300 Uraufführungen anderer Komponisten einen reichen Erfahrungsschatz gesammelt. Seitdem unterrichtet Matthias Kaul auch die Kunst der Komposition und hat speziell für Kinder mit seiner Frau, der Querflötistin Astrid Schmeling, eine Kinderkompositionsklasse in Norddeutschland gegründet. Neben seiner Lehrtätigkeit komponiert er für Rundfunkanstalten, Opernhäuser und Festivals.

Warum ist ein Stuhl ein Stuhl?

Wandel und Verwandeln, das spricht Kaul unter dem Stichwort „Wandelkonzert“ an.Foto: Johannes Stortz

Bei einem "Wandelkonzert" geht es Matthias Kaul nicht nur um Bewegung, sondern auch um Wandel im Sinn von Veränderung und Verwandeln. Foto: Johannes Stortz


Herr Kaul, Sie sind jetzt zum zweiten Mal in Kirchheim. Was fällt Ihnen hier besonders ins Auge?

KAUL: Als Norddeutscher sticht mir eigentlich alles ins Auge. Es ist einfach alles da. Der Ort ist sehr schön, es gibt unglaublich viele Räume, die für Darbietungen jeder Art toll sind. Das finde ich nicht mal in Hamburg. Irgendwie kommt es mir so vor, als könne man hier einfach loslegen.

 

Was können sich die Menschen unter Neuer Musik vorstellen?

KAUL: Etwas Aufregendes, Gegenwartskunst. Musik und jede Form von Kunst hat ja einen Zweck, und zwar mindestens den, eine Art Zeitgeist widerzuspiegeln. Die Gegenwart ist etwas, das brennt -- daran teilzuhaben ist etwas Schönes und sehr Wichtiges. Nur wenn wir die Gegenwart auch reflektieren, kann sie sich weiterentwickeln. Es gibt ja Komponisten, die heute arbeiten und leben. So wie Mozart damals gelebt hat und Ärger mit seinem Publikum bekam. Das ist heute auch so. Manchmal ist der Ärger ja auch der Erfolg. Es gibt auch heute noch Menschen, die etwas im Kopf haben, das dann aus Papier gerät, und andere Leute nehmen dann das Papier und spielen danach.

 

Was erwartet uns bei dem Projekt?

KAUL: Mir wurde erzählt, es gibt hier Interesse für ein Wandelkonzert. Mich interessiert der Begriff "Wandeln" im weiteren Sinne, also ncht nur die Bewegung, sondern auch im Wandel und Verwandeln. Das wird sich in all diesen Darbietungen widerspiegeln. Wo endet die Musik? Das ist ja nicht festgelegt. In meinem Fall ist es so, dass Dinge, die draußen rumstehen und eigentlich für etwas anderes da sind, sich wandeln werden. Etwas, das vielleicht dafür da ist, ein Fahrrad zu halten, wird plötzlich zum Instrument. Es ist grundsätzlich so, dass ich mir eine Sache anschaue und denke: Warum ist das ein Stuhl? Das ist mir viel zu wenig. Ein Stuhl hat 10 000 Möglichkeiten! Man kann darauf sitzen, man kann damit die Tür aufhalten, man kann aber auch Musik darauf machen. Außerdem stelle ich mir vor, dass man bei diesem Ereignis am 8. Oktober nicht nur fremde Klänge hört, sondern auch fremde Dinge isst. Es gibt hier in Kirchheim Flüchtlingskochgruppen. Das halte ich für eine großartige Bereicherung. Die Zubereitung von Essen hat mich schon immer musikalisch interessiert. Ein Mörser ist ein wunderbares Musikinstrument.

 

Und wie kamen Sie als Schlagzeuger zur Komposition?

Ich langweilte mich irgendwann mit Solostücken, die es für Schlagzeuger gab. Ich bin kein Wiederholungstäter. Deshalb hatte ich die Idee, mir selbst ein Programm zu schreiben, denn ich wollte gern als Solist weiterarbeiten. Dann habe ich damit angefangen, und das war ziemlich erfolgreich, sodass andere fragten, ob ich auch für sie schreiben könne. So geriet ich in die Komponiererei hinein. Das Handwerkszeug habe ich erlernt, indem ich 300 bis 400 Stücke anderer Komponisten uraufgeführt habe. Das Interessante an der Neuen Musik ist, dass die Komponisten noch leben, es gibt intensiven Austausch, plötzlich gestaltet man mit, und irgendwann ist man dann aus Versehen auch selber Komponist.

 

Das Gespräch führte Stefanie Werner.