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„T TIP schafft den Rechtsstaat ab“

Ilse Kestin wendet sich bei Kirchheimer Maikundgebung entschieden gegen Freihandelsabkommen

Der 1. Mai hat gestern seinen 125. „Geburtstag“ als „Tag der Arbeit“ gefeiert. Die Redner bei der Kirchheimer Kundgebung gaben sich betont kämpferisch. Sie trotzten damit nicht nur dem Wetter, sondern auch dem Kapitalismus und der Politik.

Maikundgebung vor dem Kirchheimer Rathaus. Hauptrednerin war Ilse Kestin von der IGM Region Stuttgart (kleines Bild).Fotos: Deni
Maikundgebung vor dem Kirchheimer Rathaus. Hauptrednerin war Ilse Kestin von der IGM Region Stuttgart (kleines Bild).Fotos: Deniz Calagan

Kirchheim. Zu gedenken hatte die Hauptrednerin Ilse Kestin, Sekretärin der IGM Region Stuttgart, reichlich: Seit 125 Jahren gebe es „eine Tradition des solidarischen Miteinanders“. Viele „hart umkämpfte Errungenschaften“ hätten sich durchsetzen lassen. Zugleich erinnerte Ilse Kestin 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an „die größte Niederlage für die Arbeiterbewegung“ in Deutschland – die Zeit des Faschismus: „Im Mai 1933 wurden die Gewerkschaftshäuser von den Nazis besetzt, ihr Vermögen beschlagnahmt und ein Großteil ihrer Funktionäre verfolgt, verhaftet und ermordet.“ Millionen Menschen seien in den folgenden zwölf Jahren gestorben – in Vernichtungslagern, auf Schlachtfeldern, in Städten und Dörfern.

„Daraus erwächst unsere gesellschaftliche Verpflichtung, das freiheitliche und vielfältige Zusammenleben in Deutschland und Europa zu verteidigen“, leitete Ilse Kestin in die Gegenwart über. Zügellose Märkte seien kein Erfolgsrezept für Wohlstand. Deshalb müsse der Glaube an freie Märkte ohne Regulierung überwunden werden: „Was wir heute in Europa sehen, sind die Folgen einer neoliberalen Politik und des grenzenlosen Vertrauens in die Selbstheilungskräfte des Kapitals.“

Genau deshalb wandte sich Ilse Kestin entschieden gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Das Abkommen schränke die Freiheit der Menschen und der Völker ein: „Wenn ein Unternehmen meint, dass die Entscheidung eines souveränen Rechtsstaats seine Gewinnerwartung aus diesem Land schmälert, dann klagt es gegen diesen Staat auf entgangene Profite – vor einem Schiedsgericht in nicht öffentlicher Verhandlung und ohne Berufungsmöglichkeit!“ Ilse Kestins Bewertung war eindeutig: „Das wäre die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit und ein eklatanter Eingriff in die Freiheit der Völker.“

TTIP bezeichnete sie deshalb als eine „transatlantische Internationale der Arbeitgeber“, auf Kosten der Freiheit der Beschäftigten und der Völker. Die Gewerkschaften stünden für freien Handel zwischen freien Menschen in freien Ländern, sagte sie und fügte hinzu: „Genau deshalb darf es TTIP in dieser Form nicht geben!“

Weitere Themen, auf die Ilse Kestin einging, waren Niedriglöhne und prekäre Arbeitsverhältnisse, wodurch Altersarmut programmiert sei. Deshalb müsse der Mindestlohn für alle Branchen uneingeschränkt gelten – auch wenn jetzt schon klar sei, „dass auch dieser Mindestlohn nicht für eine auskömmliche Rente reicht“.

Aus der Zeit des Nationalsozialismus leitete Ilse Kestin die Notwendigkeit ab, sich gegen rechte Parolen und neofaschistische Politik zu wehren und sich zugleich für den Frieden einzusetzen: „Deutschland schuldet der Welt keine Soldaten, sondern Beiträge für Frieden und Abrüstung.“ Die Friedensfrage verknüpfte sie mit der sozialen Frage und stellte angesichts der Flüchtlingsthematik die Forderung: „Wir brauchen eine europäische Politik der Hilfe zur Selbsthilfe, die die Menschen in ihren Herkunftsländern in die Lage versetzt, sich ein menschenwürdiges, gesichertes Dasein aufzubauen.“

Als Vertreterin des Vereins Türkisches Volkshaus beklagte auch Aslan Eilem, dass es weiterhin Ungleichheiten und Unmenschlichkeiten auf der Welt gebe. Nicht zuletzt gebe es auch in Deutschland weiterhin Elend und Arbeitslosigkeit. Deshalb forderte sie „gleichen Lohn für gleiche Arbeit – für eine freie und gleichberechtigte Zukunft“.

Zuvor hatte der DGB-Ortsverbandsvorsitzende Wolfgang Scholz den 1. Mai 1890 bereits mit dem 1. Mai 125 Jahre später verglichen und dabei festgestellt, dass es damals Zehn- oder Zwölf-Stunden-Tage, schwere körperliche Arbeit, stickige Fab­rikhallen und schwere Arbeitsunfälle gegeben habe. Heute dominierten „Stress, Leistungsdruck, psychische Belastungen und Burn-out“. Aber der Grundwiderspruch bestehe nach wie vor: „Die Kluft zwischen Arm und Reich war noch nie so groß wie heute, und die Schere öffnet sich weiter.“

Für die Zukunft hielt Wolfgang Scholz deshalb fest: „Wenn wir nicht die Arbeit der Zukunft gestalten, tun es andere für uns – sicherlich nicht so, wie wir es wollen.“