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„Uns brennt wirklich der Kittel“

Podiumsdiskussion Im Alten Gemeindehaus in Kirchheim hat die Frauenunion Nordwürttemberg bei ihrem ­Bezirksdelegiertentag über die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa diskutiert. Von Cornelia Wahl

Dr. Petra Püchner, Susanne Wetterich, Christina Almert und Dr. Inge Gräßle (von links) diskutierten auf dem Bezirksdelegiertenta
Dr. Petra Püchner, Susanne Wetterich, Christina Almert und Dr. Inge Gräßle (von links) diskutierten auf dem Bezirksdelegiertentag der Frauenunion Nordwürttemberg über die Erwartungen an die europäische Wirtschaftspolitik.Foto: Cornelia Wahl

In Europa rumort es. Die Abspaltung Großbritanniens, der nahende Brexit und der vom US-Präsidenten Donald Trump angezettelte Handelszwist nagen am Selbstbewusstsein der Staatengemeinschaft. Annähernd 90 Anwesende lauschen beim Bezirksdelegiertentag der Frauenunion Nordwürttemberg im Alten Gemeindehaus in Kirchheim gespannt der Podiumsdiskussion zum Thema „Erwartungen des Mittelstandes an die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik“.

Wichtig für den Handel seien offene Grenzen, führt die IHK-Vizepräsidentin Christina Almert an. Sie beklagt eine mangelnde Unterstützung des Mittelstands. „Ich wüsste nicht, wo der Mittelstand in Europa vertreten ist“ und fordert mehr Austausch mit Brüssel. Und sie zeigt sich selbstkritisch. Der Mittelstand müsse sich besser artikulieren und organisieren, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Oft sei auch nicht bekannt, wo man Fördermittel bekommt. Die gibt es bei der Europabeauftragten der Wirtschaftsministerin Baden-Württemberg, Dr. Petra Püchner. „Wir akquirieren Projekte, um sie mit Anschubfinanzierung aus europäischen Mitteln in den Mittelstand zu bringen.“

Die Europaabgeordnete Dr. Inge Gräßle sieht dunkle Wolken am Wirtschaftshimmel aufziehen. Grund sind die Zölle auf Stahl. „Das trifft massiv die deutsche Stahlindustrie, weil wir der größte Stahlexporteur sind.“ Richtig zur Sache aber gehe es, wenn der US-Präsident die deutschen Autos ins Visier nehme. Die Folge sei ein Handelskrieg, der sich schwerpunktmäßig gegen Deutschland richte. „Wir stehen vor einer weltweiten Rezession“, so ihre Prognose. „Wir sind alle alarmiert. Die EU muss näher zusammenrücken“, fordert sie. Die Weltwirtschaft sei vom Freihandel unvorstellbar abhängig. Man versuche, Märkte auf anderen Erdteilen zu erschließen. China allerdings sieht sie nicht als einen wirklichen Partner. Eine weitere Unsicherheit sei, wie sich Großbritannien in Sachen Brexit entscheide. Auch Christina Almert sieht die Entwicklung der Wirtschaft mit Besorgnis. Donald Trump sei unberechenbar. Zudem bringt sie den Dieselskandal ins Spiel.

Doch nicht nur die Handelsprobleme beschäftigen Europa. „Wir haben viele Themen, um die wir uns kümmern müssen“, weiß Petra Püchner. Eines davon ist die Digitalisierung. Mit ihr ließen sich neue Geschäftsmodelle erschließen. Die EU schaffe die Voraussetzungen und habe beschlossen, dass ab Ende September alle Daten im digitalen Binnenmarkt über die Grenzen hinweg zugänglich sein müssen. „Das müssen wir schaffen, auch als Nationalstaat“, sagt sie.

Inge Gräßle bringt noch einen weiteren Aspekt ins Gespräch: den Rückbau der Datenschutzgrundverordnung, wenn es etwa um den Missbrauch von Sozialleistungen gehe. „Bei uns darf das Landratsamt nicht mal der Sozialprüfstelle mitteilen, ob ein Sozialempfänger ein Auto hat.“ Auch müsse eine funktionierende digitale In­frastruktur geschaffen werden. Petra Püchner ergänzt: „Europa, und speziell Deutschland, hat die Vision, im Bereich künstliche Intelligenz Vorreiter werden zu können.“ Es gelte, die bestehenden Hochleistungsrechner zu vernetzen und aufzuwerten. „Die EU nimmt dafür Geld in die Hand.“

Auch der Handel sieht die Digitalisierung positiv. „Wir fordern seit langem den schnellen Ausbau“, sagt Christina Almert und spricht sich fürs bargeldlose Bezahlen aus. Eine wichtige wirtschaftliche Rolle spiele zudem der Fachkräftemangel. Christina Almert bemängelt, dass „wir dabei sind, das System der dualen Ausbildung zu zerlegen und zu demontieren“. Es müsse wieder mehr Augenmerk auf die Ausbildung gelenkt werden. Sie wirbt auch um Jugendliche aus anderen europäischen Ländern, damit sie nach Deutschland kommen.

Inge Gräßle sieht da ein anderes Problem. Die Jugendlichen haben zwar die Möglichkeit, in Deutschland zu arbeiten. Der Binnenmarkt für Arbeitnehmer in der EU funktioniere aber nicht, etwa wegen der Unterschiede bei den Arbeitszeiten oder beim Mindestlohn. „Vielleicht muss man das einfach ändern.“ Auch seien die EU-Ausländer nicht das Problem. Vielmehr wünscht sie sich, Asylbewerber früher in den Arbeitsmarkt zu bringen. „Manchmal überlege ich mir, wer in 20 Jahren das Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet. Uns brennt wirklich der Kittel.“

Die Teilnehmerinnen der Diskussion

Ihre Sicht der Dinge stellten beim Bezirksdelegiertentag der Frauenunion Nordwürttemberg die Europaabgeordnete und Landesvorsitzende der Frauenunion Dr. Inge Gräßle, MdEP, die Europabeauftragte der Wirtschaftsministerin in Baden-Württemberg, Dr. Petra Püchner, sowie die Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Kreis Böblingen und Geschäftsführerin Hagebau Bolay in Rutesheim und Ditzingen, Christina Almert, vor. Moderiert wurde die Runde von der Bezirksvorsitzenden der Frauenunion, Susanne Wetterich.cw