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Vier Mutige wagten den Widerstand

Zeitzeugen In der Nazizeit stellten sich vier Frauen und Männer in Notzingen den Machthabern und vor allem der rassistischen und antisemitischen Gruppierung „Deutsche Christen“ entgegen. Von Andrea Barner

Wolfgang Kalmbach berichtet im Hirschsaal über den Kirchenkampf in den jahren 1938/39.Foto: Günter Kahlert
Wolfgang Kalmbach berichtet im Hirschsaal über den Kirchenkampf in den jahren 1938/39. Foto: Günter Kahlert

Wolfgang Kalmbach ist vom Andrang geradezu überwältigt: „Niemals hätte ich bei so einem Thema damit gerechnet, dass der Hirschsaal voll wird.“ Gut 75 Leute sind zu dem Vortrag gekommen, jeder Stuhl ist belegt, einige sitzen sogar auf den zur Seite geschobenen Tischen. Es geht um ein mutiges, kämpferisches Quartett, zwei Männer und zwei Frauen. Sie leisteten vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Widerstand, vor allem gegen die „Deutschen Christen“, eine rassistische, antisemitische Gruppierung, die die evangelische Kirche nationalsozialistisch umgestalten wollte.

Die Akteure, um die es an diesem Vortragsabend geht, leben nicht mehr, sie wären heute weit über 100 Jahre alt. Bei den vieren handelt es sich um die damalige Notzinger Lehrerin Irmgard Gräter und den jungen Vikar der Gemeinde, Siegfried Weller. Es geht auch um die Hirschwirtin Berta Niefer sowie um den Wellinger Schreiner Gottlieb Barz.

Gegenspieler ist ein nationalsozialistisches Machttrio, bestehend aus Bürgermeister Grötzinger, Schul- und Ortsgruppenleiter Gros und dem evangelischen Pfarrer Gustav Schaible. Der vertritt die „Deutschen Christen“, die Kirche und Bibel „entjuden“ wollen und stramm hinter der Nazi-Ideologie stehen. Schaible ist nach einem schweren Unfall depressiv und manchmal wie von Sinnen. Der Kirche geht das merkwürdige Verhalten zu weit, sie schickt den „Bekennenden Christen“ Vikar Siegfried Weller nach Notzingen.

An dieser Stelle kommt Gottlieb Barz ins Spiel. Der Wellinger ist den Nazis schon unangenehm aufgefallen. Seit der „Reichskristallnacht“ verteilt er bei Nacht und Nebel Flugblätter oder reißt Plakate ab. Irgendjemand denunziert ihn, er steht auf der Liste zur „Abordnung“ ins KZ Heuberg. Noch ist er aber da und hat ein Zimmer frei für Siegfried Weller. Das ist mutig. Gottlieb Barz ist übrigens der Großvater von Günter Riemer. Kirchheims Bürgermeister ist im Haus seiner Großeltern in Wellingen geboren. Bei dem Vortragsabend in der Arche trifft der Enkel auch Kinder und Nachkommen der anderen Prota­gonisten.

Die Spannung steigt, als Schreiner Barz und die Dorfschullehrerin höchstpersönlich zum Publikum sprechen: Wolfgang Kalmbach spielt dem gebannten Publikum Passagen aus Interviews vor, die er vor 20 Jahren mit den Beiden geführt hat. Sie erzählen spannende Dinge. Zum Beispiel stellen sich die Mitglieder der kleinen Widerstandszelle damals permanent die Frage: Wem kann man trauen? Im Widerstand zu agieren, ist brandgefährlich. „Wir waren Bürger und haben unsere Bürgerpflicht erfüllt“, spielt Gottlieb Barz in der Sprachaufnahme das mutige Verhalten herunter. Eine große Hilfe ist die Hirschwirtin Berta Niefer. Die kennt die „Spitzel“ unter ihren Gästen ganz genau und warnt die anderen. In einem von Bertas Gästezimmern kann der Vikar die Kirchenordner in Sicherheit bringen und sich ein Büro einrichten. Und jeden Tag sitzt er im Hirsch, jeden Tag am gleichen Tisch und jeden Tag mit der gleichen Frau: Irmgard Gräter. Sie ist in den 30er-Jahren Vertretungslehrerin und unterrichtet die Klassen 1 bis 3.

Das Paar spricht ständig über Politik, tauscht Informationen aus, und die beiden „merkten gar nicht, dass sie längst ineinander verliebt waren“. So jedenfalls vermutet Wolfgang Kalmbach. 1938 heiraten die beiden, Irmgard heißt fortan Weller. „Eine Liebesgeschichte, die es glatt nach Hollywood schaffen könnte“, schmunzelt Kalmbach und freut sich ganz besonders, unter den Gästen auch einen Sohn und eine Tochter der Wellers begrüßen zu können.

Irmgard Weller, die als noch ledige junge Lehrerin mit dem Schulleiter Gros unter einem Dach wohnt, entlastet den Nazi-Ortsgruppenleiter nach dem Krieg teilweise. „Er hat mir viel anvertraut und durch mich den Vikar gewarnt.“ Gros wird nicht verurteilt. Und auch der Bürgermeister kommt gut weg. Weller berichtet in dem Interview, dass Grötzinger Unterlagen zurückgehalten habe, zum Beispiel über ihren Mitstreiter Gottlieb Barz. Womöglich hat er ihm so das Leben gerettet.

Wolfgang Kalmbach ist Vorstandsvorsitzender des „Arche“-Wohnverbunds in Notzingen. Kalmbach war außerdem als Religionspädagoge und im Oberkirchenrat tätig.

Drei Fragen an Wolfgang Kalmbach

Wolfgang Kalmbach

1 Was können junge Leute heute lernen von diesem Quartett in Notzingen?

Man kann lernen, wach durch die Zeit zu gehen und sich Gedanken darüber zu machen. Außerdem braucht man Kriterien, um das einzuschätzen. Bei den vier Leuten war es damals ihr christlicher Glaube. Das hat ihnen den Mut gegeben. Sie waren miteinander vernetzt und haben immer Gleichgesinnte gefunden. Es war immer wichtig, nicht allein zu sein, denn natürlich hatten sie Angst.

2 Was war der Anlass zu Ihrem Vortrag?

Ich halte es für wichtig, dass man die Erfahrungen dieser Leute weitergibt, um sich zu schützen gegen Tendenzen, die in ähnlichen Situationen dann kommen. Es ist eine Bildungsaufgabe, das weiterzugeben und daran zu erinnern.

3 Wie wichtig ist diese kleine Widerstandsgruppe für das Notzingen von heute?

Man hätte die Ereignisse viel früher aufschreiben sollen, sie sind aktuell nicht gut dokumentiert. Es kam der Krieg, der Wiederaufbau, keiner hat daran gedacht. Aber heute merken wir ja, wie wichtig diese Erfahrungen sind. ab