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Vom Spazieren und Flanieren

Geschichte Seit Ende des 18. Jahrhunderts hat sich eine Kultur des Spazierengehens entwickelt. Sie spiegelt sich auch in und um Kirchheim wider. Von Daniela Haußmann

Ist in Zeiten von Corona noch beliebter geworden: Bewegung an der frischen Luft.Foto: Markus Brändli
Ist in Zeiten von Corona noch beliebter geworden: Bewegung an der frischen Luft.Foto: Markus Brändli

Spazieren im heutigen Sinne geht man noch gar nicht so lange. Erst im 18. und 19. Jahrhundert hat sich das Zufußgehen als Freizeitvergnügen für breite Bevölkerungskreise etabliert. Spuren finden sich auch in der Kirchheimer Geschichte.

Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts flanierten nur privilegierte Schichten. Der Adel verlustierte sich in Gärten und Parks, der Klerus schritt im Kloster-Kreuzgang auf und ab. Die mit der Aufklärung angestoßenen sozialen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen begünstigten, dass die Bürger im Gehen eine neue Funktion für sich entdeckten. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt jener Zeit brachte nicht nur einen Wandel im Naturverständnis und -verhältnis hervor. Auch die Vorstellung von Hygiene und Gesundheitsvorsorge veränderte sich und schlug sich im Städtebau nieder.

Schon in den 1770er-Jahren wurde der Ruf nach einer Verschönerung der Städte laut, nach öffentlichen Spazierwegen und Gärten, die ab den 1780er-Jahren zunächst vereinzelt und dann verstärkt für die Allgemeinheit geschaffen wurden. Die Zeit um 1800 gilt als die Geburtsstunde des städtischen Grüns. In jener Zeit verloren wegen irreparabler Schäden, kriegstechnischer Überalterung und hohen Unterhaltskosten Befestigungsanlagen ihre Bedeutung. Die daraus folgende große Entfestigungswelle zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte auch vor Kirchheim nicht Halt.

Die Stadtmauer wurde abgerissen, der Wall abgetragen und der Stadtgraben, in dem auch Abfälle entsorgt wurden, aufgefüllt. Der Luftaustausch verbesserte sich, genauso wie die Lebens- und Aufenthaltsqualität. Mit Wegfall der Befestigungsanlagen konnte die Stadt wachsen. Es entstanden Grünflächen, in denen die Kirchheimer spazieren gingen, denn die herzoglichen Hofgärten standen der Bevölkerung in jener Zeit noch lange nicht offen. Die Kirchheimer Bierkeller, die ausschließlich als Sommerwirtschaften betrieben wurden, luden Spaziergänger ab 1828 zum Verweilen ein.

In diesen Sommerwirtschaften sorgten der 1825 gegründete Liederkranz und die 1832 ins Leben gerufene Stadtkapelle regelmäßig für Unterhaltung. Auch die Platzkonzerte der Kapelle waren beliebt. Sie ließen sich mit einem Spaziergang verknüpfen, der die Stadtkultur mit der angrenzenden Landnatur verband. Zerstreuung, Erholung, soziale Kommunikation und Bewegung für das seelische wie körperliche Wohlbefinden prägten die neue Gehpraxis des Bürgertums. Im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft wohnte ihr auch ein demokratisches Moment inne, ein Gleichheitspostulat der Bürger, die sich aneigneten, was lange nur dem Ersten Stand in abgeschlossenen Parks vorbehalten war.

Ratgeber, Schul- und Etikettenbücher beschrieben, welchen Regeln das Spazieren zu folgen hat. Körperhaltung, Bewegungsstil, Schritttempo, Schrittlänge und Kleidung unterschieden das Bildungs- und Besitzbürgertum, das sich den Luxus des Spazierens an jedem beliebigen Tag und zu jeder Zeit leisten konnte, von den unteren Schichten. Letztere gingen wegen der werktäglichen Arbeitszeit am Sonntag spazieren. Die Gangart war Ausdruck der sozialen Provenienz des Gehers und ein Spiegelbild von Charakter und Gefühlszuständen. So galt etwa schnelles Gehen lange als Zeichen berufstätiger Schichten, das mit dem Charakter eines Mannes von Stande oder seiner feinen Lebensart nicht übereinstimmte.

In der Aufbruchstimmung nach der Französischen Revolution wagten auch Frauen den Schritt auf die Promenade, in Parks oder Badeorte. Mediziner und Modejournale empfahlen flache Schuhe, bequeme Kleider und den Verzicht aufs Korsett - das spiegelte sich auch in der Damenmode wider. Allerdings setzte die Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzende restaurative Gesellschafts- und Familienpolitik der weiblichen Bewegungsfreiheit wieder Grenzen. Gesittet, ohne eitlen Putz und in Gesellschaft ging nach damaliger Vorstellung die gesundheitsbewusste bürgerliche Frau, um ihre Reproduktionsfähigkeit zu fördern. Der Spaziergang war eng mit den Geschlechtervorstellungen jener Zeit verknüpft. Allerdings galt all das nicht für die ländliche Bevölkerung. Die Natur war ihre Existenzgrundlage. Vom Spazieren war ihr aufs Überleben ausgerichtetes Gehen weit entfernt.

Rund um die Teck entstand ein Wanderwegnetz

1888 entstand in Plochingen der Schwäbische Albverein, der in der Bevölkerung den Sinn für die Natur und landschaftliche Schönheiten förderte. Aspekte wie Krankheitsprophylaxe und Gesundheitspflege spielten bei dem Ziel, die Alb als Wandergebiet zu erschließen, sicher eine Rolle, denn zu seinen Mitgliedern zählten auch Ärzte und Apotheker.

Auf der Burg Teck baute der Verein einen Aussichtsturm und eine Schutzhütte. Neben Wanderkarten und -literatur war es Aufgabe des Vereins, Wanderwege her- und Wegweiser aufzustellen sowie beides zu pflegen und zu unterhalten. Gustav Ströhmfeld erarbeitete die bis dato gültige Grundkonzeption für den Aufbau des Wanderwegenetzes, in das sich auch das Gebiet um die Teck einfügte. Es war bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel, auch wegen der Spazier- und Wanderwege, die der Verein auswies und bekannt machte.dh