Einen nigelnagelneuen Rennflitzer der Motorrad-Superklasse einfach mal so zersägen und ihn damit bewusst seiner Fun-Funktion zu berauben, das kommt nicht alle Tage vor. Bei der Firma Grau Schnittmodelle war genau das der Fall. „In Notzingen kommen Kunst und Handwerk zusammen“, bringt Firmeninhaber Johannes Grau die scheinbare Irrationalität auf den Punkt.
Der Auftrag zur mutwilligen Zerstörung der Aprilia RSV4 1100 kam von der Installations- und Objektkünstlerin Alexandra Bircken. Sie lebt in Berlin und ist Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in München. Es ist nicht das erste Motorrad, das sie zersägen ließ. In Museen und Galerien sind die Maschinen und ihr Innenleben zu bewundern. Für Johannes Grau und sein „altbewährtes Team“ mit Franziska Richter und Wolfgang Eisenhardt war es jedoch ein Novum. Die Künstlerin hat der Chef nie persönlich getroffen, dafür ihren Mann, der das „Geschoss“ in Notzingen ablieferte. Bevor irgendjemand in der Werkstatt jedoch Hand anlegen konnte, musste der Tank leer sein. „Es war ein kurzer Ritt die Daimlerstraße rauf und runter, bis die Maschine ihr Leben ausgehaucht hat“, erzählt Johannes Grau.
„Die Aufgabe war megaschwierig. Es geht um den rechten Winkel. Durch alle Teile musste ich diese Linie finden“, verdeutlicht er. Dazu kommt, dass es sich um unterschiedliche Werkstoffe handelt. Die müssen einzeln aufeinander abgestimmt geschnitten werden. Deshalb wurde das Motorrad als Erstes komplett in sämtliche Einzelteile zerlegt, „das Ding entblättert - und zwar ganz und gar, denn alle Flüssigkeit muss raus“. Hinterrad, Federung, Luftfilter, Tank, Batterie, alles musste weg, um ans Eingemachte zu kommen. „Die Maschine ist so was von kompakt gebaut, da gibt es keinen Millimeter Luft. Das war kompliziert zu zerlegen“, beschreibt er die Schwierigkeiten. Der Motor erlitt das gleiche Schicksal. Drei Tage hat diese Prozedur gedauert, jeder Vorgang wurde mit einem Foto dokumentiert.
Dann kam die Feinplanung. In Bad Boll gab es in einem Motorradgeschäft das exakt gleiche Modell, das Johannes Grau von allen Seiten fotografiert und dann seine Schnittlinie grob geplant hat. „Im ausgebauten Zustand habe ich dann die finale Feinschnittlinie festgelegt. Was da raus kommt, ergibt die komplette Linie, nach der sich alles ausrichtet“, so der Tüftler. Das Gehäuse kam in den Originalrahmen wieder rein, die Stabilität lieferte ein Ständer. Dann wurden alle Teile wieder zusammengesetzt: Getriebe, Ventile, Nockenwellen, Zylinderköpfe . . . Die Innenteile wurden separat geschnitten. Bandsäge und viele andere Werkzeuge kamen bei den entscheidenden Schnitten zum Einsatz. Als alles zersägt war, kam alles wieder raus und es ging ans Eingemachte. „Das ist ein Riesenfitzelgeschäft.“ Es wurde drahterodiert, dann alle Teile entgratet. „Als alles schön gemacht war, wurde es wieder zusammengebaut“, sagt der Chef, dessen Job die komplette Planung ist. „Franzi hat ganz viel geschnitten, Wolfgang Eisenhardt war für den Ständerbau zuständig und hat drumrum geschafft“, beschreibt Johannes Grau die Arbeitsteiltung. Vier Wochen beziehungsweise rund 250 Stunden Arbeit stecken in dem zersägten Motorrad. In dieser Zeit wachsen Mensch und Maschine zusammen. „Franzi hat die Aprilia schier nicht hergeben können“, fühlt der Chef mit seiner jungen und engagierten Mitarbeiterin mit.
„Das war eine tolle Zusammenarbeit mit der Firma Grau, es ist alles online gelaufen“, sagt Alexandra Bircken. Toll sei auch das Motorrad geworden, freut sich die Künstlerin schon auf die Ausstellung in der Galerie BQ in Berlin. Dort will sie sie in einer dunklen Ecke installieren. In etwas reinzugucken, zu sezieren, in einen Rahmen bringen, „Inside out“ fasziniert Alexandra Bircken, die selbst Motorrad fährt. „Ich arbeite sehr viel mit Körpern, habe mich mit der weiblichen Anatomie befasst“, erzählt sie. Sachen bildhaft darzustellen, mit Materialien wie Silikon zu arbeiten, ist ihr Antrieb. „Da kam ich auf die Idee, Maschinen zu schneiden. Zu sehen, wie ein Motor funktioniert, der Kolben, der Auspuff - körperanalog“, sagt sie. Wichtig sei dabei, einen ganz sauberen Schnitt zu machen. „Damit wird die Sache dysfunktional gemacht, aber auch umfunktioniert: vom Objekt, das Kunst wird. Die Verschiebung ist klar wahrnehmbar“, beschreibt sie ihre Arbeiten. Das sei schmerzhaft. „Das Motorrad hat viele Tausend Euro gekostet, das tut allen weh. Man will eigentlich immer reparieren, was kaputt ist. Aber mit dem Zersägen passiert was Neues, man bekommt Einblicke.“ Während der Installation beginne das Objekt zu sprechen.
Gerne wäre sie während des Arbeitsprozesses in Notzingen vorbeigekommen, aber Corona machte auch hier einen Strich durch die Rechnung. Von München wäre die Strecke kein Problem gewesen, aber das Sommersemester fand hauptsächlich online statt. „Einmal im Monat haben wir einen großen Raum gemietet, um arbeiten zu können, die Jahresausstellung fand im Freien statt“, sagt die Künstlerin. In ihrem Katalog verrät Alexandra Bircken viel über ihre Arbeit: Die Haut ist eine Barriere. Die eine Seite dieser Barriere ist etwas, das man als eine Maschine beschreiben könnte, und auf der anderen Seite liegt etwas, das nicht durch eine Maschine ersetzt werden kann. Dafür interessiere ich mich. Die meisten menschlichen Eigenschaften können als ein Programm, als eine Maschine beschrieben werden - insbesondere diejenigen, die man als ein System bezeichnen könnte. Maschinen sind besser in der Lage, Systeme zu interpretieren. Man denke nur an Spiele wie Schach oder Go. Aber Maschinen haben weder das eine noch das andere erfunden. Das ist der Unterschied. Meine Arbeit speist sich aus Beobachtungen menschlichen Lebens und unserer Umgebung. Es geht um unsere Verletzlichkeiten und unsere Mittel des Eigenschutzes. Und um die Erwartung und Leistung, welche die moderne Gesellschaft von uns verlangt und die wir uns selbst abverlangen. Wir sind häufig funktionsähnliche Maschinen.
Der Schnitt offenbart nicht nur das Innenleben der Objekte, sondern deaktiviert und bewertet es neu. Der Schnitt wandelt die Ikonografie in etwas um, das von einer anderen Perspektive gelesen werden kann - allerdings ist sie immer noch Teil derselben Geschichte. Der Titel eines der auseinandergesägten Motorräder lautet „Aprilia“ und beinhaltet das Verb „öffnen“ - italienisch: aprire. Eine andere Arbeit heißt „Diana“. Diana ist der Name der römischen Jagdgöttin, was einen zur Prinzessin von Wales führt. Wenn man die Bodenarbeit betrachtet, scheint es, als sei sie ein Schmetterling. Ein Motorrad ähnelt mehr einem Pferd als einer Kuh.
Die 1100er RSV4 ist eine Rennmaschine, die 300 Stundenkilometer fährt und nicht nur auf dem Hockenheimring fahren darf. „Man kann sich in Bad Boll im Hof des Händlers auf die Aprilia setzen und dann den Aichelberg hochrasen“, erklärt Johannes Grau. Im Internet ist in einem Forum zu lesen: „Zum ersten Mal in meinem Leben schießt mir der Gedanke in den Sinn, dass so ein Motorrad nicht auf öffentliche Straßen gehört“, schreibt ein Probe-Fahrer, um am Ende folgendes Resümee zu ziehen: „Ich schrei vor Glück unter meinem Helm, bin fasziniert und zugleich geschockt, dass man mit so einem Gerät auf der Straße fahren darf. Ich bin 52 Jahre alt und hatte Probleme, mich im Zaum zu halten. Wie soll sich da ein 22-jähriger Bursche beherrschen?“ Die zersägte Aprilia verführt niemanden mehr zum „Fliegen“ auf der Straße, sondern Kunstliebhaber zum Staunen, die sich gerne überraschen lassen.