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Was wurde aus den archäologischen Funden an der Neubaustrecke?

Ausgrabungen 2016 kam auf der Baustelle der ICE-Trasse ein alamannischer Friedhof zum Vorschein. Einige Fundstücke sollen im Wendlinger Stadtmuseum ausgestellt werden. Von Sylvia Gierlichs

Der Zweite Weltkrieg hat im Raum Stuttgart Spuren hinterlassen. Theoretisch kann von der Fliegerbombe bis zur Handgranate noch so einiges im Boden schlummern. Bei großen Bauvorhaben wird also immer auch der Kampfmittelbeseitigungsdienst hinzugerufen, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.

Auch in Wendlingen war das im Sommer 2016 der Fall. Die Bauarbeiter an der ICE-Strecke standen eigentlich schon in den Startlöchern. Dann schlugen die Geräte der Spezialisten an. Doch nein, eine Weltkriegsbombe war es nicht, die die Kampfmittelbeseitiger vor den Toren Wendlingens fanden. Zum Vorschein kamen zunächst vier Schwerter. Und zwar aus frühmittelalterlicher Zeit. Die Tunnelbauer mussten ab dann erst einmal an anderer Stelle weiterarbeiten, denn das Landesamt für Denkmalpflege, das seinen Sitz in Esslingen hat, übernahm auf der Wiese bei Unterboihingen das Kommando. Und plötzlich hatte man auf der Wiese in Unterboihingen so ein klitzekleines bisschen das Gefühl, man sei in Ägypten. Menschen knieten vor Skeletten, pinselten um Knochen herum, arbeiteten sich mit Skalpellen und kleinen Kellen durch den Lehmboden. An einem Ort, wo eigentlich große Rammen eine Spundwand setzen sollten, war plötzlich Millimeterarbeit gefragt. Zelte wurden über den Grabungsstellen aufgestellt, um die freigelegten Funde vor Witterungseinflüssen zu schützen.

 

118
alamannische Gräber
wurden bei Ausgrabungen an der ICE-Trasse bei Wendlingen gefunden
 

„Ganz überrascht waren wir eigentlich nicht, denn 2015 hatten wir in Unterboihingen bei einer Ausgrabung bereits drei Pfostenbauten nachgewiesen“, sagte der Referatsleiter Jörg Bofinger. Auch gab es dort Hinweise auf eine Feuerstelle. Damals war bei den Grabungen außerdem fast die ganze Südseite der Außenmauern eines etwa 1,3 Hektar umfassenden Gutshofes zum Vorschein gekommen. „Uns war schnell klar, dass es sich bei den Funden an der ICE-Trasse um etwas Wichtiges handelt“, sagte Bofinger. Am Ende waren es 118 Gräber, die vom Grabungsteam freigelegt wurden. Sie fanden Skelette von Männern, Frauen und Kindern. Doch wer wurde hier beerdigt? Römer jedenfalls nicht, fand Grabungsleiterin Inga Kretschmer rasch heraus. Keramikfunde legten nahe, dass der Friedhof und die nahe gelegene Ansiedlung aus dem 6. und 7. Jahrhundert stammen und somit den Alamannen zugerechnet werden können.

Mit feinem Werkzeug wird vorsichtig die Erde rund um das Skelett abgetragen. Foto: Inga Kretschmer

So richtig spannend waren die Funde, die den Toten mit in ihre Gräber gegeben wurden. Gürtelschnallen, Pinzetten oder Kratzer, Werkzeuge und Feuerstahl und Feuersteine waren noch vorhanden. Letztere trugen die Männer normalerweise an ihren Gürteln. Gefunden wurden auch Waffen, die den Männern beigelegt worden waren. Darunter befanden sich 20 Hiebschwerter, auch Sax genannt, sowie eiserne Pfeilspitzen für die Jagd mit Pfeil und Bogen. Sieben Lanzenspitzen und zwei Äxte waren ebenfalls unter den Fundstücken. Der wohl bedeutendste Fund war ein Männergrab, in dem neben dem Sax und dem Langschwert auch eine Lanze und ein Schildbuckel gefunden wurden. „Es muss sich hier um eine wohlhabende Person gehandelt haben“, sagt Jörg Bofinger.

Wohlhabend waren wohl auch einige der Frauen, in deren Gräbern man Fibeln fand, mit denen die Umhänge an den Schultern geschlossen wurden. Die gab es zwar auch schon bei den Kelten und Römern, aber die Ornamentik war damals anders, wie Jörg Bofinger erläuterte. Fibeln, sagt er, seien Leitfossilien, die Anhaltspunkte zur Altersbestimmung geben. In Unterboihingen wurden zwei Kleinfibeln in Form eines Adlers gefunden, auch zwei Bronzefibeln kamen zum Vorschein. In fünf Gräbern fand man kleine silberne Scheibenfibeln mit rötlichen Einlagen aus Almandin – ein Mineral, das zur Gruppe der Granate gehört. Und damit eindeutig nicht aus Wendlingen stammt, sondern über die damals schon reichlich vorhandenen Handelsbeziehungen importiert wurde. Ein Fingerring, Ohrringe und verzierte Haarnadeln aus Bronze wurden ebenfalls geborgen. Wirklich prächtig ist jedoch ein Perlencollier, das aus mehr als 200 Glas-,
Ton- und Bernsteinperlen bestand und von einer Mitarbeiterin getreu des am Fundort gemachten Fotos wieder aufgefädelt wurde. Auch Glas und Bernstein waren Importwaren. In einem Mädchengrab fand man einen durchlöcherten Bärenzahn, das offensichtlich als Amulett getragen wurde.

Das Perlencollier besteht aus mehr als 200 Glas- und Bernsteinperlen. Foto: Michael Lingnau

Doch wer waren eigentlich die Alamannen? Nun, so genau kann man das gar nicht sagen. Denn es fehlen schriftliche Aufzeichnungen, die berichten könnten, wie sich die Menschen, die beispielsweise in Unterboihingen lebten, selbst bezeichneten. Die Römer bezeichneten sie als Alamanni. Doch sahen sie sich selbst so? Fühlten sie sich überhaupt einem Volk angehörig?

Als gesichert gilt: Es gibt Übereinstimmungen von Funden aus Gräbern im Südwesten und Gräbern im Elb-Saale-Gebiet. Die Menschen, die in Unterboihingen lebten, siedelten bewusst in räumlicher Nähe zur verlassenen römischen Siedlung. Sie bezogen jedoch nicht die römischen Gebäude. Wie es scheint, lebten die Menschen auch nur über drei Generationen in Unterboihingen. Doch wer weiß, ob nicht auch Wendlingen aus einer alamannischen Siedlung entstanden ist? „Die Endung -ingen in Ortsnamen deutet darauf hin“, sagt Jörg Bofinger. Denn sie drückt eine Zugehörigkeit, meist zu einer bestimmten Person, aus. In Nürtingen, das einst ­Niuwirit-ingen genannt wurde, war es ein Mann namens Niuwirit, dem die Menschen folgten.

In Wendlingen, und hier nimmt der Zufall eine ganz besonders nette Wendung, gab es einen Anführer, der offenbar Wanda, vielleicht auch Wandilo, hieß. Wanda lebte etwa im 6. Jahrhundert, im frühen Mittelalter also. 1500 Jahre später benannte die 7. Klasse der Johannes-Kepler-Realschule eine der beiden Tunnelbohrmaschinen, die an der ICE-Strecke den Albvorlandtunnel bauten, mit dem Akronym WANDA – Wendlingen am Neckar durchs Albvorland. Die Schüler wussten nichts von Wanda, dem alamannischen Anführer, nach dem ihre Stadt benannt worden war. Und doch trafen sie voll ins Schwarze.

 

Funde entlang der Strecke

Nicht nur in Wendlingen kam es beim Bau der Neubaustrecke zu etlichen Funden. Entlang der gesamten ICE-Trasse Wendlingen–Ulm fanden sich archäologische Funde. Auf 36 Flächen wurden Grabungen gemacht, deren Funde einen Zeitraum von 5500 vor Christus bis zum Hochmittelalter abdeckten. Es wurden römische Straßen gefunden (in Köngen), aber auch Friedhöfe, Heiligtümer und ein keltischer Hort. An jeder Fundstelle entlang der Trasse konnte nur ein kleines Fenster geöffnet werden, ein Teilaspekt gezeigt werden. Die Dimension der Fundstelle bleibt damit unklar. Bereits gut erforscht ist das Gräberfeld auf dem Ulmer Bahnhofsgelände. Mit seinen 450 Gräbern gilt es bis heute als größter alamannischer Friedhof der Region. Bei Merklingen fand man einen Silbermünzenschatz, der unterhalb der Autobahnböschung lag. Am höchsten Punkt der ICE-Trasse, bei Hohenstadt, entdeckte man Gebäudestrukturen aus der Bronzezeit, also etwa 2000 Jahre vor Christus.

Die Funde aus Wendlingen werden im Zentralen Fundarchiv in Rastatt aufbewahrt. Doch es gibt Überlegungen, einige Gegenstände als Dauerleihgabe im Stadtmuseum Wendlingen auszustellen. Dafür gilt es, die klimatischen Voraussetzungen zu schaffen und auch die Sicherheitsaspekte müssen beachtet werden. sg