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Weniger Ausbildungsplätze und noch weniger Bewerber

Arbeitsmarkt Den Firmen im Kreis fehlt der Nachwuchs. Lehrstellen gibt es im Landkreis genug, sagt die Agentur für Arbeit und zieht Bilanz. Von Peter Buyer

Sie haben die Wahl, die jungen Leute. Und das, obwohl der Ausbildungsmarkt geschrumpft ist. Die Zahl der in den Landkreisen Göppingen und Esslingen im vergangenen Ausbildungsjahr angebotenen Lehrstellen ist gegenüber dem Vorjahr um 577 gesunken, ein Minus von zehn Prozent. 5172 Ausbildungsplätze gab es, sagt die aktuelle, gestern präsentierte Statistik der für beide Landkreise zuständigen Agentur für Arbeit Göppingen. Im gleichen Zeitraum gab es bei den Bewerbern auf freie Ausbildungsplätze einen deutlich größeren Rückgang. 3557 junge Menschen haben sich gemeldet und beworben. Das sind 1091 weniger als im Vorjahr, ein Minus von 23,5 Prozent.

Karin Käppel, Vorsitzende der Geschäftsführung, spricht von einem „Bewerber-Einbruch“. Es gäbe derzeit „eine große Verunsicherung“, was und wie sie weitermachen sollen. Die Gründe liegen nach der Analyse der Arbeitsagentur in der derzeitigen Corona-Situation. Vor allem die fehlenden Möglichkeiten, durch Praktika in die Berufswelt reinzuschnuppern, würden arg vermisst, sagt Käppel. Aber auch Strukturwandel der Wirtschaft und die Digitalisierung führe zu Verunsicherung bei der Berufswahl der Jugendlichen. 640 freie Ausbildungsstellen und damit rund 13 Prozent der Lehrstellen konnten nicht besetzt werden, ergänzt Agentur-Geschäftsführerin Bettina Münz. Dabei konnte sich ihrer Ansicht nach das Handwerk noch relativ „gut behaupten“, einen deutlichen Bewerberrückgang sieht sie in der Industrie. Das bestätigt Alexander Köhler von der Firma Allgaier in Uhingen, den die Arbeitsagentur zur gestrigen Online-Konferenz eingeladen hatte. Köhler leitet die Allgaier-Personalabteilung, seit 2004 geht jede Bewerbung für einen Ausbildungsplatz über seinen Schreibtisch. Im Jahr 2007 gab es im Elektrobereich noch 56 Bewerbungen, 2021 nur noch neun. Auch bei den Industriemechanikern, bei männlichen Bewerbern immerhin auf Platz zwei in der Erstberufswunsch-Beliebtheitsskala, gibt es bei Allgaier einen massiven Rückgang: 2007 landeten noch 206 Bewerbungen auf Köhlers Schreibtisch, 2021 waren es gerade noch 23. Zusätzlich zum Rückgang der Bewerber sieht Köhler mit Blick auf die Schulnoten und der im Bewerbungsgespräch abgefragten Fähigkeiten einen deutlichen Niveauverlust, spricht von „erheblichen Defiziten“ und nennt ein Beispiel: In jedem Gespräch stelle er die Frage, was eine Hose, die ursprünglich 200 Euro kostete, noch kostet, wenn sie 30 Prozent runtergesetzt ist. „In diesem Jahr gab es noch keine richtige Antwort“, sagt Köhler. Dafür gleichen sich die Antworten auf die Frage, was die Bewerber nach dem Bewerbungsgespräch und in ihrer Freizeit tun: „Chillen“.

Auch beim technischen Wissen sieht er Defizite. Wenn ein angehender Industriemechaniker nicht erklären kann, was ein Zahnrad ist, hat Köhler Probleme, ihn einzustellen. Kaum noch einer betätige sich zu Hause handwerklich, rund die Hälfte der Bewerber wisse nicht, wie man einen Fahrradreifen wechsele. Dazu kommen häufig noch Deutsch- und Kommunikationsprobleme, rund 95 Prozent der Bewerber auf einen gewerblich-technischen Ausbildungsplatz haben einen Migrationshintergrund, sagt Köhler. Gute Realschüler, und damit meint er die mit einem Notenschnitt von 2,7 oder besser, bewerben sich bei Allgaier und Köhler nicht mehr. Und was machen die? Markus Knorpp, Teamleiter Berufsberatung bei der Agentur für Arbeit, hat eine Antwort. Immer mehr Jugendliche gehen auf weiterführende Schulen. Das liege auch daran, dass es in den Landkreisen eine „gut strukturierte Gesellschaft“ gebe, sprich die Familien es sich leisten können, dass die Jugendlichen „den Eintritt ins Berufsleben hinausschieben“. Der Trend zur weiterführenden Schule hat sich im Jahr 2021 noch mal verstärkt, sagt auch Agentur-Chefin Käppel.

 

Gute Aussichten für gute Bewerber

Trotz aller Minus-Zahlen ist die Situation auf dem Ausbildungsmarkt in den Landkreisen Göppingen und Esslingen gut. Rechnerisch kommen auf jeden Bewerber rund 1,5 freie Ausbildungsplätze. Lediglich 57 Bewerber haben 2021 keine Lehrstelle gefunden. Dazu haben immer­hin 202 Jugendliche eine Qualifizierungsmaßnahme begonnen, um ihre Chancen zu erhöhen. Die Göppinger Agentur für Arbeit hat im vergangenen Jahr 7,2 Millionen Euro in die Ausbildungsförderung investiert und ist stark im Internet präsent. Von BerufeTV und BerufeNet bis zu Check-U reicht das Angebot. Check-U ist ein „Erkundungstool“, das Jugendlichen hilft, ihre Fähigkeiten besser einzuschätzen und so einem zu ihnen passenden Beruf näher zu kommen. pb