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Wie das Leben klingtKontakt

In der Martinskirche erzählen "Letzte Lieder" von sterbenskranken Menschen

Kirchheim. Als Stefan Weiller eine Reportage über eine Sterbende im Hospiz Advena in Wiesbaden machen wollte, empfingen ihn helle

Farben und laute Musik, aus dem weit geöffneten Zimmer der Frau, die er interviewen wollte. Sie spielte das Lied "Immer wieder sonntags" von Cindy und Bert - nicht eben sein Geschmack, aber eine überraschende Erfahrung mit einer lebendigen Schlagerexpertin, die im Sterben lag. Dies war der Auslöser für das Projekt "Und die Welt steht still – Letzte Lieder und Geschichten von Menschen in der letzten Lebensphase".

Die Interviews für Weillers Projekt fanden in Hospizen beziehungsweise auch bei Betreuten der Arbeitsgemeinschaft Hospiz aus Kirchheim statt, also einerseits in stationären Einrichtungen, aber auch im häuslichen Umfeld. Die Befragten wussten alle zum Zeitpunkt des Gesprächs, dass sie in naher Zukunft sterben würden. Im Zentrum der Begegnungen mit den 30 bis 90 Jahre alten Menschen standen die Fragen: "Gibt es ein Lied, das für Ihr Leben stand?"

Stefan Weiller entwickelte daraus das sich ständig wandelnde dokumentarisch-musikalische Projekt. Die Aufführungen sind den beteiligten Frauen und Männern gewidmet. Die Vorstellungen sind ein Konstrukt aus choreografiertem Konzert, Theater, Lesung und Video-Installation.

"Letzte Lieder" geriet am Samstagabend zu einem Ereignis ganz besonderer Klasse: Die Martinskirche war voll besetzt, die Künstler brillierten mit Texten und Musikstücken und das Publikum zeigte sich ergriffen und bis ins Innerste berührt. Fünf aufeinander folgende Jahreszeiten repräsentierten 19 Zimmer mit sterbenden Menschen und ihren Geschichten. Alles war dabei – Barock-, Operetten-, Kirchen- und Popmusik.

Der Einstieg "Passacaglia della vita", Stefano Landi zugeschrieben, mündete in "Komm lieber Mai". Die Dame in Zimmer zwei, die wundervolle Zeiten erlebt hat, wünscht sich die "Christel von der Post" und das Lied ihres Lebens "Weißt du, wie viel Sternlein stehen?" Es hat ihr schon als Kind Vertrauen vermittelt. Der Mann in Zimmer drei ruft zum Leben auf. "Let it be" ist seine Liedauswahl. Und so geht es weiter: anrührend, manchmal zum Weinen, aber auch zum Lachen und Mitsingen. Die Jüdin in Zimmer vier, die im KZ war, sucht sich "A jiddische Memme" aus.

Eine Berlinerin, die es nach Zizishausen verschlagen hatte, wollte trotz Krebserkrankung noch nicht im Hospiz bleiben. Sie zog mit ihrem Mann in ein Pflegeheim. Sie wünscht sich "Geh aus mein Herz", das Berliner Lied "Sein Milljöh" und "Für mich solls rote Rosen regnen". Die lebenslustige Dame aus Zimmer acht entscheidet sich für "Fällt das Glas mir aus der Hand" von Ina Müller. Besonders beeindruckend: Die Kriegs- und Wiedersehenserfahrungen einer Frau mündet in den Schlager "Zwei kleine Italiener", und ein leidender Mann, der sich einen Joint genehmigt, identifiziert sich mit "Ground control" von David Bowie. Als die Gesangssolistin "I will always love you" von Whitney Houston" singt, bekommt man Gänsehautgefühl. Ein Schlagzeugsolo – ausgewählt von einer Frau, deren Leben wie ein Trommelfeuer verlaufen ist – offenbart dem Publikum, wie sie gelebt hat. Gegen Schluss ertönt der Song "Der Weg" von Herbert Grönemeyer, "Ich kann nicht mehr seh´n...." - das Publikum ist hingerissen.

Der Frankfurter Projektkünstler hat für seine Vorstellung erstklassige Mitstreiter ausgesucht: die Sprecherinnen Hansi Jochmann, bekannte Schauspielerin und deutsche Synchronstimme Jodie Fosters, und Daniela Fonda. Die musikalische Gestaltung übernahm der wunderbare Maulbronner Kammerchor unter Leitung von Professor Jürgen Budday, ebenso Gesangssolisten und Instrumentalisten, die mehr als überzeugten. Der Chor war ganz besonders präsent, da er sich durchs Kirchenschiff bewegte und den Zuhörern sehr nahe kam. Der Videokünstler Ralf Koop sorgte für die visuellen Impressionen. Ohne Bezirkskantor Ralf Sach wäre die Benefizveranstaltung nicht denkbar gewesen, ebenso wenig ohne die Hospizgruppe und der Gesamtkirchengemeinden.

Wichtig war allen Beteiligten der Gedanke, mit dem Lied und der Geschichte am Aufführungsabend "dabei zu sein" und damit über den Tod hinaus Teil des Lebens und der Welt zu sein. Die "Letzten Lieder" sind ein musikalisches Vermächtnis. Die Zuhörer können viele kluge, bewegende, ungeschönte und kraftvolle Botschaften aufnehmen, ohne dass sie einem schwer werden. Der "Soundtrack" des Lebens dieser Menschen hallt nach und macht sie unvergesslich, fast könnte man sagen unsterblich. "Wir begegnen bei der Veranstaltung lebenden Menschen, keinen Toten", sagt Stefan Weiller. Schwermütig solle es nicht werden. Diskussionen ergeben sich zwangsläufig: Wie wollen wir leben? Was bedeutet Lebensqualität in der letzten Lebensphase? Welche Werte sind uns wirklich wichtig?

Stefan Weiller hat Sozialpädagogik studiert und arbeitete als Journalist für verschiedene Tageszeitungen. Sein Schwerpunkt lag dabei in den Bereichen Soziales, Kultur, Kirche und Gesellschaft. Seit 2009 konzipiert er Kunstprojekte, die Grenzerfahrungen aufgreifen, etwa Wohnungslosigkeit, häusliche Gewalt, Armut und Diskriminierung. Der Autor wird damit zum Porträtisten und Biografen von Menschen am Rand der Gesellschaft. Bekannte Schauspieler und Sprecher arbeiten in seinen Projekten mit, er ist in Großstädten zu Gast.

Am Ende wird die Sterbende in Zimmer 19 gefragt: "Hast du Angst vor dem Tod?"- Die Antwort: "Ich bin glücklich zu leben! Lebt wohl ihr Lieben!" – Besser kann man die Aussage dieses Abends nicht umschreiben.

Interviewpartner waren auch Menschen, die von der AG Hospiz begleitet wurden. Kontaktaufnahme zur AG Hospiz ist möglich unter www.hospiz-kirchheim.de oder telefonisch unter 0 70 21/9 20 92 27.