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Wie zwei Kirchheimer die Pandemie erleben

Gesellschaft Zwei ältere Menschen erzählen, wie es ihnen in den beiden vergangenen Jahren ging. Ein strukturierter Alltag ist für sie das A und O. Vielfach fehlten die Kontakte. Von Anke Kirsammer

Corona hat den normalen Ablauf gehörig durcheinander gebracht“, sagt Ingrid Stehle. Die rüstige Rentnerin engagiert sich seit Jahren beim Kirchheimer Verein buefet im Besuchsdienst, sie leitet einen Literaturgesprächskreis bei „WirRauner“ und einen Bibelgesprächskreis. All das und auch das Nachbarschaftscafé und die gewohnten Kulturführungen in Stuttgart finden im Frühjahr 2020 nicht mehr statt. 36 Jahre lang hatte die Kirchheimerin in Maria Königin als Gemeindereferentin gearbeitet. Der Kontakt mit Menschen gehört auch im Ruhestand zu ihrem täglich Brot. „Mit dem ersten Lockdown ist alles weggebrochen“, sagt sie. Sich hängen zu lassen, ist aber keine Option. „Wenn man zu schludern beginnt, wird es schwierig.“ Die Furcht vor depressiven Verstimmungen schwingt mit. Sie taktet ihre Tage durch, reserviert Zeit fürs Entrümpeln und Hausarbeit. Täglich nimmt sie Bildbände, Fotobücher oder Lesefutter zur Hand. „Den Fernseher habe ich selten angeschaltet. Ich kann mich gut alleine beschäftigen“, so Ingrid Stehle. Das kommt ihr auch bei zwei Krankenhausaufenthalten und einer Reha zupass, bei denen sie ohne Besuche auskommen muss.

 

Ich habe versucht, nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Menschen auf Trab zu halten.
Ingrid Stehle

 

Zu ihren Ritualen gehört, den Tisch besonders schön zu decken, und wenn sie Einkaufen geht, zieht sie sich an, als würde sie ausgehen. „Ich habe mich richtig gerichtet“, sagt sie. An ihren Augen ist erkennbar, dass sie schmunzelt – trotz Maske, die sie während des einstündigen Gesprächs vorsichtshalber auflässt. Zu etwas Besonderem macht sie für sich den Advent. „Ich habe versucht, nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Menschen auf Trab zu halten“, so formuliert sie es und räumt ein, dass das nicht immer gut gelingt. „Manchmal weiche ich mir auch selbst aus.“ Die viele Zeit nutzt sie, um die fehlenden Treffen durch Briefe oder E-Mails zu ersetzen. Dennoch: als es wieder möglich ist, Tagestouren zu machen und zu reisen, ergreift die Seniorin die Chance. Im Sommer vergangenen Jahres packt sie gleich dreimal den Koffer für mehrtägige Fahrten. „Das habe ich genossen“, sagt die 81-Jährige strahlend. Von den Eindrücken zehrt sie auch im Alltag.

Doch das erneute Runterfahren im Winter legt sich wie Mehltau über Ingrid Stehles Leben: „Je länger die Einschränkungen dauerten, desto mehr wuchs die Sehnsucht nach Weite und Rauskommen.“ Und trotzdem schafft sie es nicht, zum Breitenstein oder sonst irgendwohin zu fahren. „Da war Blockade und kein Schwung mehr.“ Bei sich und anderen beobachtet sie seit Weihnachten Ermüdungserscheinungen auch bezüglich der Kontakte.

Kommunikation ist für Thomas Meyer-Weithofer Dreh- und Angelpunkt. Sich mit Freunden zu treffen, sich auszutauschen, gemeinsam Sport zu treiben, bedeutet für den 67-Jährigen Lebenselixier. „Ich bin ein Yogatyp“, sagt er von sich. Doch wenn, dann braucht er dazu „seine Leute“, wie er es ausdrückt. „In den letzten zwei Jahren habe ich die Matte vielleicht viermal rausgeholt“, erzählt er. Sich ohne Gruppe zu motivieren, fällt dem Kirchheimer schwer. „Ich hatte immer den Traum, eine Kneipe aufzumachen“, sagt er schmunzelnd. Auch wenn er die Umsetzung der Idee nie ernsthaft vorangetrieben hat – sie zeigt, wie Thomas Meyer-Weithofer tickt. „Vereinsamung darf nicht stattfinden“, so lautet sein Credo. „Kommunikation und Resonanz gehören zu den zentralen Bedürfnissen“, das ist seine Überzeugung. „Ganz besonders bei den großen Veränderungen im Leben.“

 

Kommunikation und Resonanz gehören zu den zentralen Bedürfnissen. Ganz besonders bei Veränderungen.
Thomas Meyer-Weithofer

 

Als Geschäftsführer der evangelischen Erwachsenenbildung und Bildungsreferent in Göppingen hatte er die Chance, sich intensiv mit dem Älterwerden zu beschäftigen. Work-Life Balance und Resilienz waren Themen, die er bereits als junger Mann reflektiert und verinnerlicht hatte.

Vor zwei Jahren wird sein Leben auf den Kopf gestellt: Fünf Monate, bevor er in den Ruhestand geht, beginnt der erste Lockdown. „Es hat mich furchtbar erwischt“, sagt Thomas Meyer-Weithofer. Veranstaltungen, Gespräche, alles findet digital statt. „Ich war froh, dass im Sommer 2020 Schluss war.“ Der Übergang in den Ruhestand bereitet ihm wenig Probleme. Streckenweise kann er das pandemie-bedingte „Runterfahren“ sogar genießen. „Aber je länger es dauerte, desto schwieriger wurde es“, sagt er und spricht von kurzen Phasen, in denen es ihn „runterreißt“. Bei Kindern und Jugendlichen stellt er sich die Auswirkungen noch viel gravierender vor.

Dass er nach der Geburt seiner 33-jährigen Tochter Erziehungsurlaub hatte und auch heute viele Hausarbeiten erledigt, wirke sich positiv aus, so Thomas Meyer-Weithofer. „Das gibt Struktur.“ Dass sich Krise an Krise reiht, macht ihn nachdenklich. „Nichts wird gelöst. Man hat das Gefühl, es geht alles den Bach runter. Was das mit der Psyche macht?“, überlegt er. Er hat beschlossen, „aus der Ohnmacht rauszugehen“, engagiert sich ehrenamtlich, seit anderthalb Jahren ist er zweiter Vorsitzender von buefet. Es geht darum, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

 

Die Bilder aus der Ukraine wecken Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg

Die Pandemie ist noch nicht überstanden, da überfällt Russland die Ukraine. Das macht etwas mit Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. In Heidenheim aufgewachsen, kann sich Ingrid Stehle gut erinnern, wie der ganze Himmel rot war, wenn Ulm bombardiert wurde. „Als der Krieg anfing, kamen die Bilder wieder hoch“, sagt sie. Auch ihre erste Angsterfahrung, an die sie sich erinnert, steht ihr wieder vor Augen: Sie war drei und saß auf einem Reisigbüschel, während die übrige Familie ein Stück entfernt Holz holte. „Dann gingen die Sirenen los. Ich hatte solche Angst, dass alle in den Luftschutzbunker gehen und mich vergessen“, sagt die 81-Jährige.

Ein mulmiges Gefühl bereiten ihr Bilder von Panzern, erlebte sie doch als Fünfjährige in der amerikanischen Besatzungszone, wie sie in langen Schlangen einfuhren. „Ich mache mir Sorgen um meine Nichten und Neffen und hoffe, dass sie nicht erleben müssen, was wir erlebt haben“, sagt sie. Dabei denkt sie auch an den Mangel der Nachkriegszeit, daran, wie sie als ältestes Kind der Familie wegen Bezugsscheinen anstehen musste und von den Erwachsenen beiseitegeschoben wurde. Bilder von Flüchtlingen aus der Ukraine lassen die Erzählungen von Frauen hochkommen, die mit ihren Kindern aus Ostpreußen fliehen mussten. Und wenn sie die zerbombten Häuser in Kiew und anderen ukrainischen Städten sieht, hat sie die Ruinen im Stuttgarter Osten von 1947 vor dem inneren Auge. „Ich kann keine Leute in Tarnfarben sehen und finde Sirenen immer noch beängstigend“, sagt Ingrid Stehle. „Wir sehen viel zu viele Bilder von Not und Gewalt.“ ank

 

Das Ankerwerfen hat gefehlt

Vereine Viele Angebote von „buefet“ und „Unser Netz“ waren während der Pandemie lahmgelegt. Das wirkt nach.

Kirchheim/Lenningen. „Wir haben immer geguckt, dass wir das machen, was die Regeln gestatten“, erzählt Gabriele Riecker, Leiterin der „Netz“-Geschäftsstelle. Besuchsdienste beim „Betreuten Wohnen zu Hause“ etwa fanden statt. Andere Angebote wie der Montagstreff für Menschen mit Demenz oder die B.U.S.-Gruppen, bei denen Bewegung und Spaß im Vordergund stehen, wurden dagegen über Monate ausgesetzt. „Das hat etwas mit den Menschen gemacht“, sagt Gabriele Riecker. Abnehemende Kompromissbreitschaft und ein dünneres Nervenkostüm hat sie festgestellt. Wer vor Corona bereits depressive Phasen hatte, bei dem habe sich das Problem verstärkt. Auch die Mobilität habe sich oft deutlich verschlechtert. „Das macht man nicht wieder rückgängig“, gibt die Fachfrau zu bedenken. Bei Menschen mit Demenz hat sie einen negativen Schub ausgemacht. Gefehlt hätten Anreize zur Kommunikation. Die Angst vor einer Ansteckung habe vielen den Lebensmut genommen. Ein Übriges tue nun der Krieg in der Ukraine. Er beschäftige die Älteren stark. „Erlebnisse und Ängste aus der Kindheit kommen hoch. Das wirkt sehr bedrückend auf Menschen, die schon einmal einen Krieg erlebt haben“, sagt Gabriele Riecker. Dass Menschen am Lebensende von Kriegserlebnissen sprechen, sei nichts Neues. Jetzt aber erscheint das Thema viel präsenter und emotionaler als sonst.

Auch Monique Kranz-Janssen, Geschäftsführerin des Kirchheimer Vereins buefet, hat festgestellt, dass Themen wie Flucht und Vertreibung aufpoppen. Viele ältere Menschen hätten sich während der Pandemie nicht nur zurückgezogen, sondern auch ihre Ansprüche heruntergeschraubt. Das beziehe sich auf Geselligkeit und Kommunikation genauso wie auf die Versorgung. So sei teils nicht mehr so aufwendig gekocht worden wie gewohnt. Einzelne hätten kräfte- und gewichtsmäßig total abgebaut. Weil die Vereinsamung zugenommen habe, gebe es häufig kein Korrektiv. „Die Menschen bleiben in ihrer eigenen Gedankenwelt“, hat Monique Kranz-Janssen beobachtet. „Das Ankerwerfen hat gefehlt“, sagt sie. Das, so hofft sie, ist jetzt, wo viele Angebote wieder starten, nach einer langen Durststrecke endlich wieder möglich. Anke Kirsammer