Esslingen. Die Runde nennt sich Task Force, die sich zur täglichen Lagebesprechung im Esslinger Landratsamt trifft und ist eigentlich ein Krisenstab. Mit steigendem Dienstgrad und wachsender politischer Verantwortung spricht man vom Runden Tisch. Wieviele solcher Treffen in den vergangenen Monaten im Land stattgefunden haben, ist so unklar wie die Zahlen, um die es dabei geht. In Esslingen ist es die zweite Zusammenkunft dieser Art, bei dem sich die Oberbürgermeister der Kreisstädte, Vertreter von Gemeindetag und Kirchen sowie die Fraktionsvorsitzenden im Kreistag heute vor allem einer Frage widmen werden: Wie kann man sich dem bisher Unvorstellbaren zumindest annähern?
Fest steht: Der Kreis braucht weitere Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge, und er braucht sie schnell. 2 200 Plätze gibt es zurzeit, 1 300 weitere sollen noch in diesem Jahr hinzu kommen. Die meisten davon in Esslingen, Hochdorf und auf den Fildern, wo derzeit Unterkünfte für mehr als 1 000 Menschen entstehen. Zahlen, mit denen der Kreis Esslingen im Regierungsbezirk Stuttgart die Spitzenposition inne hat. Zahlen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits morgen überholt sein werden.Angesichts völlig überfüllter Erstaufnahmestellen wie in Karlsruhe oder Ellwangen erreichen die Landkreise und Kommunen fast täglich neue Schätzungen des Landes. Jüngster Stand: In den verbleibenden drei Monaten dieses Jahres rechnet man im Landratsamt mit 190 Neuankömmlingen pro Woche. Doppelt so viele wie bisher.
Was das heißt, wurde Anfang der Woche in Esslingen deutlich. Dort ziehen Landkreis und Stadt gemeinsam zum ersten Mal den Bau einer Zeltstadt in Erwägung. Wo ist noch nicht geklärt. Oberbürgermeister Jürgen Zieger und Gemeinderatsvertreter haben dies ganz offen in Form einer Pressekonferenz verkündet. Anders als in Filderstadt, wo man die öffentliche Debatte zum Thema offenbar scheut und mögliche Standorte dem Gemeinderat stattdessen als Verschlusssache unter dem Tisch zusteckt. Auch in Gemeinden wie in Lenningen, wo der private Verkauf eines Grundstücks 38 Menschen ein Dach über dem Kopf verschaffen könnte, erhitzt das Thema die Gemüter. Anwohner machen mobil. Beispiele, die zeigen: Die Nerven liegen blank. „Wir sind auf jedes Bett, auf jeden Raum angewiesen“, sagt der Esslinger Landrat Heinz Eininger. „Es geht nur noch über Notquartiere.“ Inzwischen wird geprüft, wo weitere Sporthallen für eine Belegeung in Frage kommen.
Die verzweifelte Suche nach geeigneten Unterkünften ist aber nicht das einzige Problem, das den Kreischef derzeit drückt. Kommenden Donnerstag legt Eininger im Kreistag den Haushaltsentwurf für 2016 vor. Darin enthalten: eine Erhöhung der Kreisumlage um 2,1 Prozentpunkte. Ein Risikozuschlag, der der Erwartung Rechnung trägt, dass das Land sein Versprechen auf eine vollständige Erstattung der Kosten für die Flüchtlingshilfe schlicht nicht hält. Eininger geht davon aus, dass der Kreis 2016 auf Kosten in Höhe von 20 Millionen Euro wird sitzen bleiben. Angesichts der unklaren politischen Lage will der Landrat den unbequemen Schachzug als „Gewinnwarnung“ verstanden wissen.
Im Raum steht nach wie vor die Finanzierungszusage von Ministerpräsident Winfried Kretschmann vom Mai diesen Jahres, die der Grünen-Landtagsabgeordnete Andreas Schwarz gestern untermauerte: „Das Wort des Ministerpräsidenten gilt“, betonte Schwarz. „Man sollte die Leute jetzt nicht auf die Bäume treiben, sondern erst einmal das Verfahren abwarten.“ Gemeint ist die Neufassung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes, dessen jetzt vorliegender Entwurf Eininger zufolge dieser Zusage widerspricht. „Für mich gilt zuerst das, was auf dem Papier steht und dann das Wort Herrn Kretschmanns.“
Was ihn am Donnerstag im Kreistag erwarten wird, darauf gab es gestern bereits einen Vorgeschmack. Heftiger Widerstand regt sich vor allem in Reihen der Freien Wähler, der traditionellen „Bürgermeisterfraktion.“ Man könne die Kommunen nicht prophylaktisch belasten, indem man die Krise vorwegnehme, urteilte der Reichenbacher Rathauschef Bernhard Richter. Kirchheims Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker hatte bereits am Mittwoch in ihrer Haushaltsrede eigene Worte für die Pläne im Landratsamt gefunden: „Wir sind doch keine Kreis-Sparkasse.“