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„Wir sind nicht wie Fähnchen im Wind“

Unterstützung Mit der „Leuchtlinie“ aus der Opferrolle heraus: Wer aufgrund seiner Hautfarbe, Religion oder Nationalität angefeindet wird, findet in der Kirchheimer Beratungsstelle für rechte Gewalt Hilfe. Von Melissa Seitz

Der Startschuss für die „Leuchtlinie“ in Kirchheim ist gefallen. Walter Schulz, Angelika Matt-Heidecker, Heval Demirdögen, Gökay
Der Startschuss für die „Leuchtlinie“ in Kirchheim ist gefallen. Walter Schulz, Angelika Matt-Heidecker, Heval Demirdögen, Gökay Sofuoglu und Jutta Ziller (von links) unterhalten sich über das Konzept der Anlaufstelle. Fotos: Mirko Lehnen

Wenn Jutta Ziller, die Leiterin der Kirchheimer Linde, an rechte Gewalt denkt, kommt ihr ein ganz konkretes Beispiel in den Sinn: „Vor zwei Jahren kam eine türkische Mutter in die Linde und erzählte mir ganz geschockt, dass ihrer Tochter das Kopftuch runtergerissen wurde.“ Jutta Ziller setzte sich mit der Frau zusammen und versuchte, zu helfen. Die Leiterin des Mehrgenerationenhauses kennt sich mit Opfern von rechter Gewalt aus - genau so wie alle Mitarbeiter des Mehrgenerationenhauses. Perfekte Voraussetzungen für die erste baden-württembergische Anlaufstelle der „Leuchtlinie“.

Die „Leuchtlinie“ ist eine landesweite Hilfseinrichtung für Opfer von rechter Gewalt. Die Organisation wurde von der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg (tgbw) ins Leben gerufen. „Befürchten Sie nicht, dass es heißt, Sie als Migrantenverein können es sich nicht rausnehmen, den Deutschen einen Spiegel vorzuhalten?“, fragt Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker in einem Pressegespräch. Gökay Sofuoglu, Landesvorsitzender der „tgbw“, ist sich dieser Kritik bewusst: „Wir haben schon viele solche Zuschriften bekommen, doch wir Türken gehören auch zu Deutschland.“ Jeder in diesem Land müsse sich mit dem Thema „rechte Gewalt“ auseinander setzten, auch Migranten.

Doch bei „Leuchtlinie“ geht es nicht um politisches Denken, sondern um Menschen, verdeutlicht Werner Schulz, Pressesprecher der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg. „Ich bin noch nie einem Opfer von rechter Gewalt begegnet, aber ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwierig sein muss, mit so einer Erfahrung umzugehen“, sagt Kirchheims Oberbürgermeisterin. Wie grausam solche Erlebnisse wirklich sein können, verdeutlicht ein Beispiel: „Ein Mann wurde von einem Nachbarn mit seinem Hund bis nach Hause verfolgt und hat auf sein Auto gespuckt“, schildert Werner Schulz.

Irgendwann ist es zu viel

Solche Fälle sind meistens ein weiterer Punkt auf einer langen Liste von Diskriminierungen und rechter Gewalt. Der gebürtige Kirchheimer Heval Demirdögen ist der Leiter der „Leuchtlinie“. Er weiß, wie viel Leid die Opfer meistens schon erlebt haben. „Doch irgendwann ist ein Ende erreicht, und genau da muss die Beratungsstelle ins Spiel kommen“, erklärt Heval Demirdögen.

Was die Opfer brauchen, ist jemanden zum Zuhören. „Die Geschichte müssen nicht mal unbedingt wahr sein,“ erzählt Jutta Ziller, „aber es geht darum, dass man für die Menschen da ist.“ Denn selbst hinter einer Lüge stecken manchmal tiefere Probleme. Bei dem Versuch, sich Freunden oder Verwandten zu öffnen, treffen viele auf Beschuldigungen. „Es heißt dann: Du bist doch selbst Schuld. Du hast einen kurzen Rock getragen“, weiß die Leiterin der Linde. Das Erlebte wird dann oft herabgesetzt, und die Betroffenen fühlen sich noch mehr in die Opferrolle gedrängt.

Jutta Ziller ist sich bewusst, dass auch die Linde zur Zielscheibe von rechter Gewalt werden kann. „Wir knicken hier nicht ein, wir sind nicht wie Fähnchen im Wind“, sagt sie. Egal wann, egal wie, die Mitarbeiter sind immer erreichbar - per E-Mail, Telefon oder persönlich.

20 weitere Beratungsstellen sollen in Baden-Württemberg folgen - wo und wann ist noch unklar. Sicher ist aber, dass die „Leuchtlinie“ in Kirchheim ein wichtiger Schritt gegen rechte Gewalt ist.

Info Hilfe finden Betroffene direkt bei der „Leuchtlinie“ unter der Nummer 07 11/88 89 99 33 oder per Mail an kontakt@leuchtlinie.de. Wer einen Ansprechpartner direkt in Kirchheim sucht, kann sich bei der Linde unter der Nummer 0 70 21/4 44 11 melden oder unter der Mail-Adresse mail@linde-kirchheim.de.

Drei Fragen an Heval Demirdögen

LEUCHTLINIE stellt in Kirchheim Teck erste regionale Anlaufstelle vor. Beratungsstellet für Betroffene von rechter Gewalt.Heval
LEUCHTLINIE stellt in Kirchheim Teck erste regionale Anlaufstelle vor. Beratungsstellet für Betroffene von rechter Gewalt.Heval Demirdögen (Leiter Leuchtlinie)

Warum ist die erste Anlaufstelle für rechte Gewalt ausgerechnet in Kirchheim?

Kirchheim ist mein Heimatort. Ich weiß, dass die Stadt offen ist, und gerade in der Linde finden Menschen einen Ansprechpartner, wenn sie Hilfe brauchen. Da kann ich aus Erfahrung sprechen, auch ich habe hier viel Zeit in meiner Kindheit verbracht.

Was versteht man unter rechter Gewalt?

Wenn die Täter ihre Opfer menschenverachtend behandeln, spricht man von rechter Gewalt. Dadurch bekommen sie das Gefühl, dass sie weniger wert sind als andere. Das muss nicht nur durch körperliche Gewalt geschehen, sie werden oft auch einfach psychisch genötigt.

Wie präsent ist dieses Problem in Baden-Württemberg?

In unserem Monitoring-System sind über 141 Fälle von rechter Gewalt eingegangen. 118 Menschen haben wir beraten. Bei den meisten Fällen handelte es sich um Fremdenfeindlichkeit. Es geht aber nicht immer um Hautfarbe und Religion. Häufig werden Menschen wegen ihrer politischen Einstellung diskriminiert. Auch viele Flüchtlingshelfer bleiben von rechter Gewalt nicht verschont.sei