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Wo die Haube zum Kunden spricht

Kultur Wie kann man die Geschichten von 39 Menschen aus der Region zu Gehör bringen? Die Kultur-Region Stuttgart hat dafür einen rollenden Friseursalon gestaltet, der zur Zeit in Kirchheim Station macht. Von Thomas Zapp

Martin Bürkle will selbst erzählen, Inga Banczyk und Michaela Mäkel hören lieber zu.Foto: Carsten Riedl
Martin Bürkle will selbst erzählen, Inga Banczyk und Michaela Mäkel hören lieber zu.Foto: Carsten Riedl

Die beiden „Kundinnen“ aus Hannover und Berlin sind eigentlich in die Region gereist, um auf der Schwäbischen Alb zu wandern. Wegen des Regenwetters haben sie sich an diesem Morgen Kirchheims Innenstadt angeschaut und sind im blau-gelben Bauwagen mit den 70er-Jahre-Trockenhauben gelandet. Doch die dienen nicht dazu, ihnen die Haare zu trocknen. Stattdessen bekommen sie aus den integrierten Ohrpolstern und Kopfhörern in den Krups-Hauben Geschichten von Menschen aus der Region zu hören. Die beiden Norddeutschen sind von der Idee begeistert.

Das Geräusch schnipselnder Scheren markiert akustisch die Übergänge zwischen den 39 Geschichten. Dann fängt eine Frauenstimme an zu erzählen, von Quadraten und Schokolade. Es muss sich um die Enkelin der Erfinder der Ritter-Sport-Schokolade handeln, ihren Namen sagt sie aber nicht. Sie erzählt von ihrer Kindheit, dem frühen Tod des Vaters und ihrer Leidenschaft für Kunst, die heute zu einem Museum auf dem Betriebsgelände in Waldenbuch geführt hat.

Die Geschichten handeln aber nicht nur von Prominenten oder Menschen, die ihr Leben in der Region verbracht haben. Der Berlinerin Inga Banczyk hat zum Beispiel die Geschichte „Muss-Zustand“ besonders gut gefallen. Darin geht es um eine Bosnierin, die im Bürgerkrieg ihren Arm verloren hat und nach Deutschland geflüchtet ist. „Da kommen einem manchmal die Tränen“, sagt sie. Und sie ist überrascht, dass diese Frau am meisten ihre Heimat vermisst. „Gleichzeitig ist sie unheimlich positiv, das ist beeindruckend“, sagt Inga Banczyk.

Die Geschichten sind maximal drei Minuten lang, ein Vor- oder Zurückspulen ist nicht möglich. „Die Leute sollen sich auf die Geschichten einlassen und nicht hin- und herspringen“, sagt Volontärin Natalie Lang, die das Projekt der Kultur-Region Stuttgart vor Ort betreut. Auch sei wichtig, dass die Menschen, die von sich erzählen, anonym bleiben. Ebenso wenig ist zu erfahren, in welcher Stadt oder Gemeinde sie leben.

Die Idee zum rollenden Friseursalon, der den Kunden gratis „Geschichten unter der Haube“ anbietet, stammt vom Team der Kultlur-Region Stuttgart. Die Bewohner der Region sollten bei dem Projekt zu Wort kommen, und dafür wollten die Macher einen typischen Kommunikationsraum schaffen und kamen auf den Friseursalon. Bei der Umsetzung waren Jonas Bolle, Simon Kubat und Christian Müller vom Künstlerkollektiv „Citizen Kane“ federführend. Sie hatten 39 Menschen aus 24 Orten getroffen und 60 Stunden Interviews zu dreiminütigen Kurzgeschichten zusammengefasst und von Profis einsprechen lassen. Ein Bühnenbildner designte den Bauwagen zum rollenden Salon um. „Man sieht, dass hier ein Profi am Werk war“, lobt Besucherin Michaela Mäkel aus Hannover. Kirchheim ist die 20. von 23 Stationen des „Pop-Up-Salons“.

Der Friseurwagen bietet auch die Möglichkeit, über die gehörten Geschichten hinaus selbst aktiv ins Gespräch zu kommen. Das hat zum Beispiel Besucher Martin Bürkel aus Echterdingen beherzigt. Der macht, der eigenen Haarpracht verlustig geworden, sein eigenes Fotoprojekt über Haare und hat den rollenden Salon als willkommene Kulisse erkoren. Von dem Gehörten war er weniger begeistert: „Mir waren die Geschichten etwas zu intellektuell“, sagt er. Bürkle hat dafür die beiden Besucherinnen aus Hannover und Berlin kennengelernt, hat eigene Fotos geschossen und dabei die Geschichten aus den Kopfhörern schon wieder fast vergessen.

So ist es jedem Besucher überlassen, seinen ganz persönlichen Nutzen aus dem rollenden Salon zu ziehen. In Kirchheim steht er noch bis zum 6. Oktober vor dem Kornhaus in der Max-Eyth-Straße 19, geöffnet ist er jeweils von 11 bis 17 Uhr.