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„Zeitpunkt der Diagnosestellung ist bittersüß“

Psychiatrie Autismus wird oft erst spät erkannt. Betroffene haben in Göppingen eine Selbsthilfegruppe gegründet. Von Margit Haas

Das Bild, das die Gesellschaft von Autismus hat, prägte das Filmdrama „Rain Man“ aus dem Jahr 1988, als Dustin Hofmann und Tom Cruise Geschwister spielten, die sich im Erwachsenenalter näherkommen. „Der Film hat wenig mit Autismus zu tun. Es wurde verwechselt mit dem Savant-Syndrom“, weiß ein 49-jähriger IT-Fachmann aus dem Landkreis. Bei ihm wurde 2012 Autismus diagnostiziert. Für sich selbst hatte er die Diagnose bereits sechs Jahre früher gestellt, als er sich in einer Fernsehdokumentation über Autismus wiederfand. „Plötzlich hatte ich eine Erklärung für viele Situationen in meinem Leben. Plötzlich war vieles logisch.“

„Der Zeitpunkt der Diagnosestellung ist bittersüß“, weiß Rudolph Bede, der Leiter der Selbsthilfegruppe, die sich jetzt gegründet hat. Er leidet selbst an der Entwicklungsstörung. „Man weiß jetzt, dass man nicht falsch oder schlecht, sondern anders ist“, betont er. Für den IT-Spezialisten bedeutete die Diagnose auch eine Zäsur in seiner psychiatrischen Behandlung: „Dort war die Krankheit nicht erkannt worden. Die Ärzte sind nicht auf diese Diagnose vorbereitet.“ Wie auch die anderen Mitglieder der Selbsthilfegruppe hat er viele Jahre Psychiatrieerfahrung hinter sich.

Überdurchschnittlich intelligent

Wie auch ein 35-Jähriger blickt er auf eine schwierige Schulzeit zurück, auf Mitschüler, die ihn gemobbt haben, auf Lehrer, die keinerlei Verständnis für die ungewohnten Verhaltensweisen aufbrachten. „Die meisten von uns vermeiden den Augenkontakt“, so der 35-Jährige, der derzeit eine Umschulung zum IT-Fachmann macht. Er hatte vor zwei Jahren begonnen, sich mit seinem „Anderssein“ auseinander zu setzen, als bei seiner Schwester die Diagnose gestellt worden war. Auch er ist überdurchschnittlich intelligent.

„Wir sind alle hochfunktionale Autisten mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein und Gerechtigkeitsempfinden. Wir können aber soziale Zusammenhänge nicht richtig verstehen“, sagt er. Die Mimik, die Gestik, die Äußerungen des Gegenübers können also nicht „gelesen“ werden. Sagt jemand, mir ist kalt und ein Fenster ist geöffnet, ist eigentlich klar, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Der 35-Jährige erklärt: „Wir aber brauchen eine klare Aussage. Wir werten nicht, sondern nehmen nur Infos auf. Wir kommunizieren auf einer Sachebene.“

Der 49-Jährige hat, als er endlich die Diagnose Autismus erhalten hatte, sein gesamtes Leben „umprogrammiert“. Wie auch der 35-Jährige. Und wie die meisten Autisten leidet er daran, keine Partnerin zu haben. „Es belastet mich. Die Logik sagt mir aber, dass es keinen Sinn macht.“„Die Selbsthilfegruppe ist extrem wichtig für uns“, bekräftigen alle: „Es ist ungemein hilfreich, miteinander auf Augenhöhe reden zu können.“ Regelmäßig treffen sie sich auch im Autisten-Café, zu dem der Verein „Viadukt – Hilfen für psychisch Kranke“ regelmäßig in den Tagestreff „Lichtblick“ in der Göppinger Schützenstraße einlädt. Dort werden etwa Erfahrungen mit Behörden ausgetauscht: Auch dort stoßen Betroffene mit ihrer auf den ersten Blick nicht sichtbaren Behinderung auf Unverständnis.

 

Komplexe Entwicklungsstörung

Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige, neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus oder Autismus-Spektrum-Störung der Inofrmations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoirs auswirken.


Infos: https://svaut.wordpress.ocm, www.autismus.de oder unter der Telefonnummer 07161/808 28 32.