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Zwei Frauen auf der Walz

Tradition Eine Hutmacherin und eine Schneiderin arbeiten noch bis Weihnachten im Atelier von Birgit Sophie ­Metzger in Esslingen. Die beiden Gesellinnen sind auf der Wanderschaft. Von Corinna Meinke

Stich für Stich kommt die Arbeit voran. Im Atelier von Birgit Sophie Metzger herrscht derzeit Hochbetrieb, denn pünktlich zur kalten Jahreszeit müssen die Maßanfertigungen und Kollektionsteile für ihr Hutgeschäft „Szenario“ fertig werden. Dort kann man viele Hüte und Mützen aus regionaler Wolle finden, die von Schafrassen kommt, die vom Aussterben bedroht sind. Denn einheimische Wolle wird als zu kratzig abgetan, und die Schäfer wissen nicht wohin damit. Aber mit kreativen Ideen lässt sich das lösen. Während die Chefin in der Esslinger Webergasse mit der Strickerin neue Aufträge bespricht und die Schneiderin an der Maschine eine Mütze nach der anderen fertigt, komplettieren zwei Kolleginnen auf Zeit das kreative Kleeblatt.

 

So frei und selbstbestimmt werde ich sicherlich nie wieder sein.
Eva
Frei reisende Hutmacherin (Wandergesellen und -gesellinnen stellen sich nur per Vornamen vor)

 

„Eva, frei reisende Hutmacherin“ und „Fanny, frei reisende Schneiderin“ stellen sich die beiden rot gewandeten Frauen vor. Beide sind Handwerksgesellinnen, die während ihrer Wanderschaft in Esslingen Station machen, aber keiner Schacht genannten Verbindung angehören und deshalb freie Reisende sind. Rot steht für die Textilberufe und habe rein gar nichts mit dem Geschlecht der Trägerin zu tun, stellt die Wandergesellin Eva fest. Zur weißen Bluse tragen sie eine rote Weste mit acht Knöpfen, die für die Arbeitsstunden pro Tag stehen, eine weit ausgestellte Hose und ein Jackett mit sechs Knöpfen, die die Zahl der Arbeitstage pro Woche symbolisieren.

Und ohne ihren flachen Zylinder gehen die beiden Frauen nicht aus dem Haus. Der schwarze Hut sei ein Symbol der Freiheit und erinnere an die Französische Revolution, denn damals hätten die einfachen Leute dem Adel das Privileg des Huttragens abgetrotzt, erklärt die Hutmacherin Eva.

„So frei und selbstbestimmt werde ich nie wieder sein“, beschreibt die 28-Jährige ihre Wanderschaft, die nun schon fünfeinhalb Jahre dauert und sie auch schon nach Spanien und Marokko geführt hat. Das mache sie nur für sich und ihre persönliche und handwerkliche Weiterbildung. Hier in Esslingen habe sie viel über Handnähte gelernt, sagt sie und zeigt das Innenleben eines Herrenhutes, bei dem Futterband und Paspel mit nicht sichtbaren Stichen fixiert worden sind. Und in jedem Betrieb lerne sie weitere neue Kniffe und Tricks.

Ihre Kollegin Fanny möchte zudem verwandte Handwerke kennenlernen wie beispielsweise die Handschuhmacherei. In Esslingen kann sie auch ihre Stickkünste zeigen: Die goldenen Initialen auf rotem Grund aus ihrer Hand werden das Futter eines besonderen Herrenhutes schmücken.

Zwischen Schnelldämpfer, mit dem Hüte in Form gebracht werden, und Nähmaschine spielt sich der Alltag im Atelier ab. „Wir müssen immer wieder mit Klischees aufräumen“, erklärt Eva resolut. Vielen Menschen sei nicht klar, dass es auch Frauen gebe, die mit dem Gesellenbrief in der Tasche auf die Walz gehen. Wobei Tasche schon mal nicht stimmt, denn auf Wanderschaft wird das Gepäck in Baumwolltücher, sogenannte Charlottenburger, eingerollt.

Und weil das alles gar nicht so einfach ist, nehmen anfangs erfahrene Wandergesellinnen den Nachwuchs unter ihre Fittiche: „Fanny ist noch meine Schülerin“, erklärt die Hutmacherin aus Nordrhein-Westfalen, die die 25-Jährige vor einem Monat in Niederbayern abgeholt hat. Zu Beginn der Wanderschaft werde sie ihr beibringen, wie man als Wandergesellin reist, nämlich zu Fuß oder als Tramperin. Übernachten könne man im Sommer auch mal unter freiem Himmel, und ansonsten gebe es in Pfarr- und Kolpinghäusern oft ein spontanes Nachtlager. Das hat etwas mit dem Werdegang des späteren Sozialreformers und Theologen Adolph Kolping zu tun, der als junger Schuhmacher vor seinem Studium das Leben auf der Straße kennenlernte.

Für Unterkunft ist gesorgt

In Esslingen sowie bei einem Abstecher von Wandergesellin Eva in Birgit Sophie Metzgers Design-Lab nach Wien haben die Hutmacherin und die Schneiderin ein festes Dach über dem Kopf, denn während sie in einem Betrieb arbeiten, sorgt der auch für die Unterkunft. Über die Feiertage ziehen die beiden Frauen dann nach Schwerin, wo sich Wandergesellinnen und -gesellen zu einem Weihnachtstreffen versammeln.

„Für meine Eltern war meine Entscheidung nicht so leicht“, räumt die 25-jährige Fanny ein, denn Wanderschaft bedeute, den Heimatort frühestens nach drei Jahren wieder zu betreten und so lange die Bannmeile von 50 Kilometern strikt zu meiden. Und internetfähige Geräte sind übrigens auch verboten. Da bleibt nur noch eine Mail an die Lieben aus einem Internetcafé. Aber nach drei Monaten dürfe man sich außerhalb der Bannmeile auch mal wieder treffen.

 

Die strengen Regeln gelten seit dem Mittelalter

Walz Früher galt die Wanderschaft oder Walz als Voraussetzung, um als Geselle die Meisterprüfung zu machen. Die Wanderpflicht der Gesellen wurde von den Zünften in den Wanderordnungen bestimmt. Die Gesellen sollten vor allem neue Arbeitspraktiken und Lebenserfahrung sammeln. Eine Wanderschaft dauert heute drei Jahre und einen Tag. Zeitweise durfte nur auf Wanderschaft gehen, wer unter 30 Jahre alt, ledig und schuldenfrei war. Seit dem Niedergang des Zunftwesens Ende des 19. Jahrhunderts gibt es sogenannte Schächte, in denen Wandernde organisiert sind.

Gepäck Bis zu 15 Kilogramm schwer kann das Hab und Gut werden, das die beiden jungen Frauen deshalb mithilfe einer Kraxe schultern. Der Frauenanteil unter den rund 500 bis 600 Wandergesellen, die im deutschsprachigen Raum unterwegs sind, befindet sich übrigens mit 15 bis 20 Prozent im Aufwind. Im Übrigen hat es schon im Mittelalter wandernde Gesellinnen gegeben, und auf das Mittelalter gehen auch die strengen Regeln zurück, die Wandergesellinnen und -gesellen beispielsweise verbieten, fürs Reisen und die Verpflegung Geld auszugeben. com