Lenninger Tal

Als Kind den Todesmarsch überlebt

Literatur Für die 10. Klasse der Realschule Lenningen ist „Mano“ Prüfungsliteratur. Dessen Autorin Anja Tuckermann kam nun zu einer Lesung in die Aula. Von Thomas Zapp

Anja Tuckermann. Foto: Carsten Riedl

Einen Zeitzeugen zu interviewen, der das Unfassbare erlebt und überlebt hat, ist schwierig. Die Journalistin und Autorin Anja Tuckermann hat über einen Zeitraum von fünf Jahren unzählige Treffen und Gespräche gebraucht, bis ihre Geschichte über „Mano“ fertig war. Hermann „Mano“ Höllenreiner, der Sinto-Junge, war im März 1943 zusammen mit seiner Familie von München ins „Zigeunerlager“ Auschwitz deportiert worden. Wie er das überlebt hat, erzählt Tuckermann in ihrem Buch „Mano - Der Junge der nicht wusste, wo er war“, das in diesem Jahr Prüfungslektüre der 10. Realschulklasse in Lenningen ist.

In der Realschul-Aula ist es mucksmäuschenstill unter den rund 60 Schülern, als Anja Tuckermann mit leiser Stimme erzählt, wie Mano im KZ von seinem „Tata“, dem Vater, getrennt wird und nur ein Foto von ihm behält. Auf dem Bild ist Manos Vater als deutscher Soldat zu sehen. Der Vater hofft so, seinen Sohn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Der damals Elfjährige kann auf einem sogenannten „Todesmarsch“ von Häftlingen fliehen. Die SS-Schergen brachten die Häftlinge auf solchen Märschen vor den nachrückenden Alliierten fort, um Beweise zu vernichten. Wer nicht mehr konnte, wurde erschossen.

„Mano erzählte mir, dass man sich nur nicht hinsetzen durfte, weil man dann vor Schwäche nicht mehr hochkam“, erzählt Anja Tuckermann. Mano überlebte, war aber vor Hunger so geschwächt, dass er aus eigener Kraft gestorben wäre, hätten ihn nicht französische Kriegsgefangene mit nach Frankreich genommen, wo er sich als französischer Jude ausgeben sollte, um seine deutsche Herkunft zu verbergen.

Denn nun war er auf der anderen Seite und dort nicht erwünscht, weil er Deutscher war. Einer seiner Fluchthelfer zerriss auch das Foto des Vaters, was Mano sehr schmerzte. „Ich will wieder richtig sein, nicht immer falsch“, habe er damals gedacht. „Er lernte aber, zu gehorchen. Weil gehorchen überleben bedeutete“, erzählt die Autorin, die bis heute Kontakt zu ihrem mittlerweile 85-jährigen Protagonisten hält. Mit ihm verbindet sie eine Freundschaft, sie ist mit ihm und seinem mittlerweile verstorbenen Cousin Hugo zu den Schauplätzen des Buches gefahren, hat mit ihm gemeinsam geweint, aber auch viel gelacht. „Es ist nicht einfach, an die Erinnerungen zu kommen. Man muss sich Zeit nehmen“, sagt sie. Ihr Buch habe sie 20 Mal angefangen, bis sie die richtige Perspektive gefunden hatte. Das Werk basiert nicht nur auf den Erzählungen Höllenreiners, sondern auch auf eigenen Recherchen in Archiven und Gedenkstätten.

Bis heute träumt Mano Höllenreiner von den Leichen, die er aus der Baracke ziehen und im Freien stapeln musste. Lange hatte der Junge, der oft mit ansehen musste, wie SS-Leute Häftlinge einfach totschlugen, Aggressionen, die er nicht kontrollieren konnte. Auch im hohen Alter, als mehrfacher Vater und Großvater, holt ihn die Vergangenheit wieder ein. Das Aufkommen der Rechten in Deutschland macht ihm gro0e Sorge. „Er hat mir gesagt, dass er zum Glück nicht mehr lange auf der Erde ist“, erzählt die Autorin. Wenn ihm Nachbarn sagen, dass sie seine Geschichte nicht mehr hören wollen, macht ihn das betroffen. Auch ist er schon auf einer Demonstration von Neonazis angegriffen worden. „Er hat sich aber sehr gefreut, dass das Buch mit seiner Geschichte eine Prüfungsaufgabe ist“, sagt Tuckermann. Ihm sei es wichtig, auch die jungen Leute zu erreichen.

Am 23. Januar wird Höllenrainer mit seiner Frau im bayerischen Landtag sprechen. Seine Message sei klar, sagt Anja Tuckermann: „Die Mehrheit muss darauf achten, dass es der Minderheit gut geht.“

Über die Autorin des Buches

Anja Tuckermann wurde 1961 in Selb geboren und lebt in Berlin. Von 1988 bis 1997 arbeitete sie beim Rias Berlin. Sie hat Romane, Theaterstücke und Texte für Musik und Kurzprosa verfasst. Ihre bekanntesten Bücher sind die dokumentarisch-biografischen Romane „Muscha. Ein Sinti-Kind im Dritten Reich“, „Denk nicht, wir bleiben hier“ über Hugo Höllenreiner, den Cousin von Mano, sowie „Mano. Der Junge, der nicht wusste, wo er war“ über Hermann Höllenreiner. Sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt.zap