Lenninger Tal

Die Kinder machen Zeichen am Fenster

Corona Agata Ososinska aus Oberlenningen arbeitet als Au-pair in Boston. Seit bald vier Wochen lebt die Familie in Isolation, weil der Gastvater Arzt ist und die Übertragung mit dem Virus fürchtet. Von Anke Kirsammer

Agata Ososinska (links) möchte trotz der Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie bei ihrer Gastfamilie in Boston bleiben.Foto:
Agata Ososinska (links) möchte trotz der Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie bei ihrer Gastfamilie in Boston bleiben. Foto: pr

Kein Stadtbummel, keine Treffen mit Freunden, keine Ausflüge mehr - stattdessen besucht Agata Ososinska die Seminare an der Harvard University jetzt online und unterrichtet die beiden Kinder zu Hause, streng getaktet nach den Vorgaben der Schule. Der Plan legt auch fest, wann sie Pause machen und einen Snack essen. Das Leben der jungen Frau aus Oberlenningen ist wegen des Coronavirus nun schon seit fast vier Wochen nicht mehr, wie es vorher war.

Seit Januar 2019 ist die 21-Jährige in einem Vorort von Boston als Au-pair beschäftigt. Nebenher belegt sie Kurse an der Uni, um zu testen, ob ein Jurastudium etwas für sie wäre. Weil ihr der Job in der Familie, das Reisen in Neuengland und das Studentenleben so gut gefielen, hat sie ihren Aufenthalt bis Anfang 2021 verlängert. Doch momentan weiß sie nicht, wie lange sie noch bleiben kann. Vor einer Woche bekam sie einen Brief vom Konsulat, in dem ihr nahegelegt wird, die USA zu verlassen. „Sie denken, dass es schlimmer wird“, sagt Agata.

Doch solange es keine Ausreisepflicht gibt, tendiert sie dazu, zu bleiben. Was ihr zu schaffen macht, ist der laxe Umgang Donald Trumps mit der Pandemie. Am vergangenen Wochenende ging er noch davon aus, dass die Kirchen zu Ostern voll sind. „New York ist noch immer nicht unter Quarantäne, obwohl bereits 30 000 Menschen infiziert sind“, sagte Agata da fassungslos. Gerade mal dreieinhalb Stunden lebt sie von der Metropole entfernt. Mittlerweile sind rund 8 000 Menschen im Bundesstaat Massachusetts an Covid-19 erkrankt. „Vor ein paar Tagen stand vorne noch eine Vier“, sagt Agata mit einem mulmigen Gefühl. Es ist weniger die Sorge, selbst infiziert zu werden, als die Befürchtung, dass das Leben noch weiter eingeschränkt wird. Außer den Lebensmittelgeschäften sind alle Läden zu, Spielplätze gesperrt und Treffen mit mehr als zehn Personen tabu.

Die komplette Isolation hat sich die Gastfamilie selbst auferlegt. Der Vater arbeitet als Arzt in einer Herzchirurgie, doch stellt er sich darauf ein, dass er bald durchgängig gebraucht wird und auf eine Station wechselt, in der Corona-Patienten behandelt werden. Deshalb werden nun die Zimmer getauscht. Damit er der Familie und ihr nicht mehr begegnet, zieht er in Agatas Zimmer im Keller, das einen separaten Zugang von draußen hat. Zu groß schätzt er die Gefahr ein, das Virus zu übertragen, falls er sich infizieren würde.

„Wir leben in einer Sackgasse, da kann ich mit den Kindern wenigstens ab und zu vor der Tür Fahrrad fahren“, erzählt Agata. „Aber wenn jemand kommt, sind wir sofort drin.“ Der vierjährigen Maddy kann sie nicht erklären, warum das Leben völlig anders ist als sonst. Bislang brachte sie die Kleine und den zwei Jahre älteren Alex jeden Tag zur Schule. Nachmittags ging es in die Bücherei oder auf den Spielplatz. „Wenn andere Kinder jetzt klingeln, dürfen wir die Haustür nicht öffnen. Wir machen dann eben Zeichen am Fens­ter“, sagt Agata. „Zum Glück haben wir einen Garten.“ Dort dürfen die Kinder spielen, und die Familie nutzt ihn neuerdings auch, um Gemüse anzubauen. Salat, Tomaten und Gurken. So soll sichergestellt sein, dass alle in den nächs­ten Monaten genügend Vitamine bekommen. Andere Nahrungsmittel sind im Überfluss eingelagert - allerdings erst nachdem sie desinfiziert beziehungsweise ein bis zwei Wochen in Quarantäne waren. „Egal, was auf der Welt passiert, wir sind darauf vorbereitet“, lautet die Devise des Gastvaters. Zusätzlich hat er nun genau berechnet, wie viele Kalorien jeder braucht und Lebensmittel in Tüten eingeschweißt. „Mit den Vorräten könntest du 30 Familien ernähren“, meint Agata schmunzelnd.

Au-pairs dürfen nicht mehr einreisen

In den USA hatten sich gemäß der John-Hopkins-Universität bis gestern 246 000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. 6 000 Patienten starben. Zum Vergleich: In Deutschland gab es zum gleichen Zeitpunkt rund 84 000 Infizierte und 1 100 Tote. Den örtlichen Gesundheitsbehörden zufolge waren es in New York City 50 000 Infizierte. 1 500 Menschen sind mit dem Virus gestorben. Im Bundesstaat Massachusetts sind rund 8 000 Menschen an Covid-19 erkrankt und über 100 gestorben.

Im Bundsstaat Massachusetts, dessen größte Stadt Boston mit 618 000 Einwohnern ist, haben inzwischen mit Ausnahme von Lebensmittelläden die Geschäfte geschlossen, Essen darf nur abgeholt oder geliefert werden und Treffen von mehr als zehn Personen sind verboten. Seit Mitte März sind die Schulen und Universitäten geschlossen, Spielplätze gesperrt. Spaziergänge sind erlaubt, nicht aber das Ausüben von Mannschaftssportarten. Vorerst gelten die Beschränkungen bis Mitte Mai.

Boston ist einer der Flughäfen, den US-Amerikaner, die aus dem Ausland kommen, noch anfliegen dürfen. Europäer dürfen jedoch auch dort nicht mehr einreisen.

Die Au-pair-Agentur, über die Agata Ososinska eingereist ist, organisiert bis Juni keine neuen Einreisen für Au-pairs mehr. Momentan läuft eine Petition, die erlauben soll, dass Au-pairs länger als zwei Jahre in Amerika bleiben dürfen. „Niemand weiß, ob sie Erfolg hat, aber einen Versuch ist es wert“, sagt Agata Ososinska. Sie selbst hat durch die Verlängerung bis Anfang 2021 die derzeit gültigen zwei Jahre bereits ausgeschöpft.ank