Lenninger Tal

Freiheit, die ich meine

Schäferei Die 17-jährige Anja Schmid aus Owen hat sich für ein Berufsziel entschieden, das so gar nicht ins moderne Bild eines Teenagers passen will. Die Natur liegt ihr näher als Facebook und Instagram. Von Bernd Köble

Der Platz, an dem sie sich wohl fühlt: Anja Schmid im Schafstall hoch über Owen.Foto: Carsten Riedl
Der Platz, an dem sie sich wohl fühlt: Anja Schmid im Schafstall hoch über Owen.Foto: Carsten Riedl

Der Albtrauf versteckt sich hinter tiefhängenden Wolken an diesem ungewöhnlich kalten Mainachmittag. Im fahlen Licht, das durch den Schleier fällt, erscheint das Grün der Magerwiesen am Bölle unterhalb der Teck dunkler als sonst. Der tagelange Regen hat der Vegetation eine Stresspause verschafft. Noch immer plätschern dicke Regentropfen in Pfützen vor dem Gehöft am Rande des Naturschutzgebiets. Das Thermometer zeigt 14 Grad. Für das zierliche Mädchen in dünnem T-Shirt und Arbeitshose offenbar die richtige Betriebstemperatur. Mit einem geübten Satz schwingt sie sich vom Traktor und verschwindet hinter einem gewaltigen Schiebetor. Drinnen im Stall sind schon seit Stunden die Scherer am Werk. Dreckverkrustete Wollvliese lösen sich unter geübten Händen sekundenschnell von dampfenden Leibern. Hier und da ein lautes Blöken als tierischer Protest. Ansonsten hört man nur das Surren der Rasiermesser. Bei den Männern mit den kräftigen Pranken sitzt jeder Griff. Allein die Fliegenschwärme unterm schummrigen Neonlicht ziehen das Chaos vor.

„Ich vermisse
nichts."
Anja Schmid
Die angehende Landwirtin bewertet
Glück nach anderen Maßstäben.

Anja Schmid kommt um diese Zeit von der Schule. Eigentlich sollte sie an diesem Nachmittag daheim sitzen und büffeln. In einer Woche sind die Prüfungen für die Mittlere Reife an der Werkrealschule, wo sie als Jahrgangsbeste ihren Hauptschulabschluss gemacht hat. Doch heute gibt es Wichtigeres zu tun. Das Heute, das ist für sie die Zukunft. Die 17-Jährige hat sich für ein Leben als Landwirtin entschieden. Sie will Schafhalterin werden.

Vor Jahrzehnten hätten ihm die Kollegen vermutlich noch mitleidsvoll auf die Schulter geklopft. Jörg Schmid ist Landwirt aus Passion. Er steht an der Schwelle zum sechsten Lebensjahrzehnt und ist Vater zweier Töchter. Mehr als 1 200 Tiere versorgt er inzwischen. Er und seine Frau haben den elterlichen Betrieb zu dem gemacht, was in der Branche eher selten ist: ein Wirtschaftsunternehmen, das sich rechnet. Rund eine halbe Million Euro flossen in den vergangenen fünf Jahren in Ausrüstung und neue Technik, mit der die Familie und zwei angestellte Schäfer mehr als 180 Hektar Weidefläche in Weilheim und Owen bewirtschaften. Die Frage, wie es eines Tages weitergehen könnte, hat Jörg Schmid bisher immer verdrängt. Bis zu jenem Weihnachtstag 2017, als die älteste Tochter verkündete, sie wolle Landwirtin werden und den Hof übernehmen.

Sein erster Gedanke: „Des Mädle soll was Gscheits lernen.“ Doch der Vater weiß auch: Seine Tochter wägt sorgfältig ab, ehe sie eine Entscheidung fällt. Danach gibt es kein Zurück mehr. Als es um die Neuanschaffung eines Klemmstands ging, in dem die Tiere ihre Ohrmarken erhalten, hat sie sich gegen den Willen des Vaters durchgesetzt. Hinterher, hat sich ihre Wahl als richtig erwiesen, verrät Mutter Bettina hinter vorgehaltener Hand.Anja weiß, was sie erwartet. Die Teenagerin mit dem gewinnenden Lachen kann zupacken, auch wenn man ihr das auf den ersten Blick nicht ansieht. Mit der Arbeit im Betrieb ist sie groß geworden. Der einzige längere Urlaub, der ihr als Kind in Erinnerung geblieben ist: zehn Tage Nordsee mit den Großeltern. Während sich Gleichaltrige mit Facebook-Posts und Instagram-Accounts die Zeit vertrieben, hat sie nach Schulende den Hof geschmissen, als die Eltern für eine Woche mit der landwirtschaftlichen Erzeugergemeinschaft auf Reise waren.

„Ich vermisse nichts,“ sagt Anja Schmid und strahlt über das ganze Gesicht. Wenn sie frühmorgens, noch ehe der Tag erwacht, mit dem Traktor zum Futterholen fährt, wenn alles noch still ist und die Feuchtigkeit der Nacht in Nebelfetzen aus den Wiesen wabert, dann erlebt sie Freiheit, die sie für nichts auf dieser Welt eintauschen will. Sie ist keine Träumerin, hat einen klaren Blick, weiß, dass für Romantik, wie sie der hübsch dekorierte Schäferkarren am Hofeingang erzählen möchte, im Alltag selten Platz ist. Lämmchen mit der Flasche groß zu ziehen und den Lieferschein für den Schlachter zu unterschreiben ist für sie kein Widerspruch. „Das gehört dazu,“ sagt sie, „auch wenn es traurige Momente sind.“

Im September wird sie ihr kleines Zimmer droben in Münsingen beziehen, wo die Berufsschule für angehende Landwirte sitzt - als einziges Mädchen in der Klasse. Ein Jahr dauert der Vollzeitunterricht, danach wechseln sich Blockunterricht und Betriebsausbildung zwei weitere Jahre lang ab. Den Praxisteil will sie in einem Schäfereibetrieb in Aalen absolvieren, weil der Blick über den Zaun, wie sie sagt, wichtig ist.

Drei bis vier Berufseinsteiger verzeichnet der Landesschafzuchtverband im Jahr. „Weniger als zwei bleiben,“ sagt Geschäftsführerin Anette Wohlfahrt. Immerhin: Seit einem guten Jahrzehnt sind Frauen im Kommen. Fast die Hälfte der Neulinge im Schäfereiberuf seien heute weiblich. Was bleibt, ist ein gravierender Mangel an Fachkräften. „Die Schafhaltung driftet immer mehr in den Nebenerwerb ab,“ sagt Wohlfahrt. „Würde die Landschaftspflege auskömmlich vergütet, wäre das anders.“

Jörg Schmid weiß, dass er seinen Töchtern zumindest eine Perspektive bieten kann. Die 14-jährige Lena will es ihrer Schwester eines Tages gleichtun. Beim Vater hat sich die anfängliche Skepsis gelegt. „Heute“, sagt Jörg Schmid, „bin ich stolz wie Oskar.“

Stundenlohn von 6,50 Euro

Der Verdienst eines selbstständig tätigen Schäfers im Hauptberuf liegt bei durchschnittlich 6,38 Euro pro Stunde und damit deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 9,19 Euro. Haupteinnahmequelle sind staatliche Gelder für die Landschaftspflege, die 59 Prozent des Einkommens ausmachen. Knapp 40 Prozent der Einnahmen in der Schafhaltung stammen aus dem Fleischverkauf. Erzeugung und Verkauf von Fellen und Wolle fallen mit einem Anteil von zwei Prozent wirtschaftlich heute kaum mehr ins Gewicht.

Die Landesverbände der Schafzüchter fordern deshalb seit Langem schon die Einführung einer Weideprämie pro Mutterschaf, die dem tatsächlichen Aufwand bei der Tierbeweidung gerecht wird. Bisher richtet sich die Höhe der Prämie allein nach der bewirtschafteten Fläche der Betriebe. In 22 der 28 Mitgliedsstaaten der EU gibt es eine solche Weideprämie bereits.bk