Lenninger Tal
„Ich kriege heute noch eine Gänsehaut“

Wiedervereinigung Für Angela Renz aus Oberlenningen weckt der Tag der Deutschen Einheit Erinnerungen: Die Eisenacherin erlebte Stasi-Schikanen und wollte aus der DDR fliehen. Dann fiel die Mauer. Von Thomas Zapp

Die Nacht, in der die Mauer fiel, hatte Angela Renz quasi verschlafen. Ihre Flucht vom thüringischen Eisenach nach Tschechien war aber schon geplant. „Ich saß auf gepackten Koffern“, erzählt die 53-Jährige in ihrem Haus am Ortsrand von Oberlenningen. In diesen Tagen, in denen sich die deutsche Einheit zum 30. Mal jährt, lässt sie die Wendezeit noch einmal Revue passieren. „Man hat in einer Misstrauensgesellschaft gelebt, hat über, nicht mit den Leuten gesprochen. Das nehme ich heute auch wieder wahr, besonders in der Corona-Zeit“, sagt sie. Sie selbst hat im „Westen“ keine Ablehnung erfahren, auch dank ihres „fehlenden“ Dialekts. Mehr Verständnis füreinander, das ist ihr Wunsch zum Tag der Einheit, der sich nicht nur auf Ost und West bezieht.

Angela Renz, die damals Lauterbach hieß, hatte eine glückliche Kindheit auf dem Land in Thüringen. Ihre Eltern stammten beide aus Schlesien und waren nach dem Krieg geflüchtet. Einen Teil der Onkel und Tanten hatte es allerdings nach Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verschlagen. So wusste Angela, dass es „drüben“ gar nicht so schlecht war und dass man dort auch arbeiten musste, aber dafür mehr Freiheiten genoss. Umso mehr störte sie es, wenn die Menschen im Westen als böse Kapitalisten bezeichnet wurden: „Das waren doch meine Tanten und Cousins.“

Die katholische Familie Lauterbach gehörte damals zu den „Unangepassten“ im atheistischen Arbeiter- und Bauernstaat. „Wir gingen regelmäßig in die Kirche“, erzählt sie. Der Glaube brachte ihr auch Probleme. „Ich war die Erste auf der Schule, die nicht die Jugendweihe ablegte.“ Das sei ein Makel für die gesamte Schule gewesen und hatte Folgen: Trotz eines Notendurchschnitts von 1,0 in der 10. Klasse durfte sie nicht das direkte Abitur machen. Sie nahm aber einen Umweg und machte eine Berufsausbildung mit Abitur. Damit konnte sie 1987 ein Studium an der FH Technische Glasverarbeitung in Ilmenau beginnen. Dort kam sie dann im Herbst 1989 in Kontakt mit protestierenden Studenten und nahm an den Montagsdemonstrationen in Ilmenau teil.

Statt zur FH ging es zum Verhör

An einem Tag im Oktober traf sie auf dem Weg vom Wohnheim zur FH den Rektor der Hochschule. Er grüßte freundlich und nahm sie im Auto mit. Statt zum Hörsaal ging es jedoch direkt zur örtlichen Stasi-Zentrale. Einen Tag lang wurde sie dort verhört. „Angst hatte ich nicht, aber ich wusste danach, dass es mir endgültig reichte.“ Auch weil sie mitbekommen hatte, dass direkt unter dem Hörsaal, einem ehemaligen Gerichtsgebäude, Menschen verhört und eingesperrt wurden. Die FH war seit jenem Tag für sie tabu. Stattdessen überlegte sie mit ihrem damaligen Freund, über die Tschechoslowakei zu flüchten. Geplant war der 10. November.

Dann kam der 9. November 1989, die Mauer fiel. „Am nächsten Morgen sagte meine Mutter zu mir: „Die Grenzen sind offen. Du brauchst nicht mehr zu flüchten.“ Sie konnte es damals nicht glauben. Ihr Freund brachte die Sachen, die sie in den Westen mitnehmen wollten, schon einmal zu Bekannten nach Bad Hersfeld. „Wir dachten, vielleicht schließen sie die Grenze ja wieder“, sagt sie. Ein paar Tage später fuhren sie dann tatsächlich rüber nach Westdeutschland, genauer zur Familie Ederle in Bissingen, der Verwandtschaft ihres Vaters. „Ich bin dort mit offenen Armen empfangen worden“, sagt sie. Und das hat sich bis heute nicht geändert.

Ist Deutschland für sie zusammengewachsen? „Solange es Unterschiede gibt bei Renten und Gehältern, ist es schwierig anzuordnen: ,Jetzt fühlt euch mal eins‘“, sagt sie. Der 3. Oktober ist für sie trotzdem ein Tag der Freude. „Wenn ich an die Szene in der Prager Botschaft denke, als die Leute vor Freude schrien, kriege ich heute noch eine Gänsehaut.“

Dass sich viele Ostdeutsche entwurzelt gefühlt haben, kann sie verstehen. „Menschen sind Gewohnheitstiere, viele hatten sich an das System angepasst und nicht das Gefühl, etwas zu verpassen.“ Bei der Wiedervereinigung seien auch viele gute Sachen aus dem Osten einfach arrogant „übergebügelt“ worden. Aber das Positive überwiegt: Wenn sie zu ihrem Vater in die alte Heimat fährt, kommt sie an einem Wachturm vorbei. „Ich denke dann nur: Wie gut, dass es das nicht mehr gibt.“ Vor allem für ihre beiden Kinder freut sie sich: „Ich bin froh, dass ihnen von Anfang an die Welt offen stand. Und hoffe, dass dies auch für uns alle immer so bleibt.“