Lenninger Tal

Mariä Himmelfahrt – Namenstag der Kirche

Die neue geistliche Heimat nach Flucht und Vertreibung vor 70 Jahren

Die Marienplastik, eine in Lindenholz geschnitzte Madonna aus dem frühen 18. Jahrhundert, schmückt den Seitenaltar der katholisc
Die Marienplastik, eine in Lindenholz geschnitzte Madonna aus dem frühen 18. Jahrhundert, schmückt den Seitenaltar der katholischen Pfarrkirche Sankt Mariä Himmelfahrt in Oberlenningen. Fotos: Jean-Luc Jacques (rechts) und Erika Hillegaart

Lenningen. An Mariä Himmelfahrt „unserer lieben Frauen Tag der Scheidung“ werden die Kräuter gesegnet. Es ist ein Hochfest der katholischen Kirche mit Prozessionen und

Wallfahrten, ein Frauentag am 15. August mit sechshundertjähriger Tradition. So manche Großmutter weiß um die alten Bräuche; etliche dieser Frauen sind die Kriegskinder von einst. Der Namenstag der katholischen Kirche in Oberlenningen ist ein Anlass der Erinnerung an manche großelterliche Kindheit. Spät und sparsam gaben „Reingeschmeckte“ ihre Familienschicksale preis, millionenfach durchlebt vor 70 Jahren, millionenfach heute weltweit erduldet. Was bot Halt und Hoffnung damals bei dieser langen Reise in eine ungewisse Zukunft in eine fremde Gegend? „Ja, die Volksgläubigkeit stärkte den Zusammenhalt, und vertraute Rituale festigten die Zusammengehörigkeit der Ausgewiesenen am neuen Wohnort“, erzählte eine heute achtzigjährige Lenningerin. In ihrem Gesang- und Andachtsbuch aus Ölmütz liegen ein Dutzend Marienbildchen.

Kriegskinder, Flüchtlingskinder – Vertriebenen-Schicksale dieser Generation spiegeln sich in der lokalen Geschichte. Menschen aus Bessarabien, Litauen, Ostpreußen, Polen, Pommern, Schlesien, Ungarn und dem Sudetenland kamen 1945/46 auch in die protestantischen Gemeinden Lenningens. Das Kriegsende mit heimkehrenden Soldaten und den Flüchtlingsströmen, die Wohnungsnot und die rationierte Ernährung lassen den Einsatz der Herrenberger Gemeindeschwester hier am Ort ahnen. Die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen kamen in körperlich schlechter Verfassung an. Es fehlte an den notwendigen Medikamenten; im Kreis Nürtingen standen für 100 000 Menschen nur 70 Krankenhausbetten zur Verfügung.

Die „Einheimischen“ lernten, Küche, Keller, Kammern zu teilen. Der Hausfrieden war Hausfrauen-Geschick. Neben dem Kampf um Anerkennung und Vertrauen, dem Alltagskampf um Nahrung, Wohnraum und Arbeit fehlte für die katholischen Neubürger ein Kirchenraum. „Ich kann mich noch an die Gottesdienste im ehemaligen Saal des Gasthauses Lamm in Oberlenningen erinnern“, erzählen die „Rucksackdeutschen“ von damals. „Der Saal war stets übervoll.“

Am Ostermontag 1949 konnte die Notkirche „Sankt Mariä Himmelfahrt“ eingeweiht werden. Sie war auf dem von der Firma Scheufelen gestifteten Gelände zwischen dem Oberlenninger Bahnhof und einem Kohleschuppen erbaut worden. Die handwerklich geschickten Neubürger hatten dabei tatkräftige Hilfe geleistet. Die älteren ehemals Vertriebenen sprechen noch heute sehr liebevoll von diesem Holzschuppenkirchlein. Sie wurde der Ort einer neuen geistlichen Heimat. Der Marienaltar war stets besonders mit Blumen und Blattwerk geschmückt.

Rund 900 katholische Christen wohnten ab 1949 in Lenningen. Ihre Arbeitskraft trug zum Wirtschaftswunder bei, ihr soziales und kulturelles Engagement bereicherte die Gemeinden. Der Name dieser Behelfskirche und der 1967 erbauten Kirche Sankt Mariä Himmelfahrt spiegelt die Marienverehrung jener Zeit wider. Die Mütter erinnerten sich in Bombennächten, auf der Flucht und bei der Vertreibung an die überlieferten rettenden Rituale, an das Rosenkranzgebet, an die Marienlieder „Maria hilf uns allen aus unsrer tiefen Not“. Musste nicht auch Maria nach ihrer Vertreibung noch einmal fliehen, um das Leben ihres Kindes zu retten? „Ave Maria zart, du edler Rosengart“. Wer hätte den alten Menschen, Frauen und Kindern, diese Vision in einem Viehwaggon streitig machen wollen? Die Männer und Brüder waren noch im Feld, gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. „Unsere Mütter aus den unterschiedlichsten Gebieten kannten dieselben Lieder, dieselben Gebete. Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit und Hilfe können Nachgeborene nur erahnen,“ schrieb eine Lenningerin, gebürtig im Sudetenland.

Nach dem Krieg forderte die US-Militärregierung einige hundert Evakuierte – vorwiegend aus dem Rheinland und Stuttgart – auf, die ab 1943 im Lenninger Tal einquartiert waren, zum Wiederaufbau in ihre zerbombten Heimatstädte zurückzukehren – man brauchte Platz für die Vertriebenen.