Lenninger Tal
 Papierfabrik brachte dem Ermstal Wohlstand

Industrie Die Papierfabrik ist die älteste Fabrik in Dettingen/Erms. Diakoniepionier Gustav Werner gründete sie vor 160 Jahren. Einst rettete sie vielen Familien das Leben, bis heute ist sie ein wichtiger Arbeitgeber.Von Christina Hölz

Es war die Zeit der Massenarmut. Hunger und Not waren ständige Begleiter vieler Dettinger Familien in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn nach 1815 war die Bevölkerung zwar stetig gewachsen – mit den Erträgen aus der Landwirtschaft konnten sich die meisten jedoch kaum über Wasser halten. Die Wende für Dettingen brachte der Pfarrer und Sozialreformer Gustav Werner: Als er vor 160 Jahren seine Papierfabrik an der Erms ansiedelte, wuchs der Wohlstand im Ort. 

Werners Fabriken brachten Arbeit und Brot ins Tal. Genau genommen bildeten sie den Grundstein für die heute reiche Industriegemeinde Dettingen. Eine Rolle soll dabei auch der damalige Dettinger Bürgermeister namens Müllerschön gespielt haben. Es wird berichtet, er habe sich in der Not an Gustav Werner gewandt, um ihm seinen Flecken als Fabrikstandort ans Herz zu legen.

 

„Unsere Geschichte ist auch Familiengeschichte.
Thomas Gehring

 

1861 ist also ein besonderes Datum für Dettingen. In der neuen Papierfabrik finden nicht nur viele Bauern und Tagelöhner aus dem Ort eine feste Anstellung. Werner richtet im Ermstal, wie schon zuvor in seinen Reutlinger Maschinenfabriken zum Bruderhaus, auch Arbeitsplätze für körperlich, geistig und seelisch behinderte Menschen ein.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gilt die Papierfabrik deswegen als Firma, die einerseits die Armut ausmerzt – andererseits aber auch den Ruf einer christlichen Fabrik hat. Noch bei einem Besuch in Dettingen anno 1949 prägt der damalige Bundespräsident Theodor Heuss den Satz, Gustav Werner habe Gott in den Maschinensaal geholt.

Papier aus Dettingen für die Welt

Damals hatte sich das Papier aus Dettingen indessen bereits einen Namen im ganzen Land gemacht: Nicht nur Bibelleser hielten den Rohstoff in der Hand, auch sämtliche Realschüler und Gymnasiasten in Baden-Württemberg schrieben ihre Abschlussarbeiten auf Prüfungsbögen made im Ermstal. In der Geschichte der Papierfabrik finden sich viele Zeugnisse der Arbeit in der Firma: Wertpapiere mit Wasserzeichen etwa, ein Wörterbuch zum neuen Testament, Bibeln, alte Buchhaltungsformulare, aber auch riesige Teile einer alten Papierdruckmaschine.

Kurz, der Produktion von Papier sind die Dettinger in den vergangenen 160 Jahren immer treu geblieben – die Papierfabrik selbst sollte ihren Namen bis heute jedoch mehrfach wechseln. Sie wurde 1981 von den Gebrüdern Buhl übernommen, die die Produktpalette um die Sparte der Dekorpapiere erweiterten. 1990 stieg Arjo Wiggins ein und schließlich, im Jahr 2011, das schwedische Unternehmen Munksjö. Die Skandinavier schlossen sich später mit dem finnischen Label Ahlstrom zum Konzern Ahlstrom-Munksjö zusammen. Die Herren kamen und gingen – geblieben ist die Kernkompetenz, der Zellstoff. Die langjährige Spezialisierung auf Papier sorgte zum Beispiel dafür, dass Ahlstrom-Munskjö im Bereich der Vorimprägnate heute als Weltmarktführer bekannt sei, betont der derzeitige Geschäftsführer Thomas Gehring.

Mittlerweile ein Hightech-Standort

In Dettingen werden laut Gehring etwa 50 000 Tonnen Spezialpapiere pro Jahr produziert. Zu finden sind diese Erzeugnisse „in beinahe jedem deutschen Haushalt“, wo sie auf Möbeloberflächen weniger als Papier zu erkennen sind, als auf dem klassischen Beipackzettel von Arzneimitteln. Die Dettinger beliefern die Medizintechnik, den Kosmetik- und Hygienebereich sowie Autobranche und Möbelindustrie. Kurz, aus Gustav Werners Fabrikle ist ein Hightech-Standort der Papierproduktion geworden.

Mit Traditionsbewusstsein: Auf die Unternehmensphilosophie des Visionärs und Gründers beruft sich Firmenchef Thomas Gehring bis heute: Gustav Werner habe das Wohl seiner Arbeiter stets am Herzen gelegen – und zugleich sind bis heute viele Ermstäler Familien eng mit dem Unternehmen verbunden. „Das zeigt sich unter anderem darin, dass unsere Geschichte auch Familiengeschichte ist. Eine generationenübergreifende Arbeit in der Papierfabrik ist in Dettingen keine Seltenheit.“

Aber zurück zur Industrialisierung in Dettingen. Auf die Papierfabrik folgten die Webereien der Vettern Eisenlohr, die ebenfalls auf die Wasserkraft der Erms setzen. Auch sie sind Geschichte, ja sogar Denkmal für eine Industrie-Epoche. Und auch sie trugen maßgeblich dazu bei, die Armut im Ort zu lindern.