Er will kein Weltverbesserer sein, auch wenn genau das die Welt bräuchte. Er ist keiner, der Luftschlösser baut und er weiß, was eine 70-Stunden-Arbeitswoche bedeutet. Er hängt an seiner Heimat, auch wenn es ihn fortzieht, und er erlebt Überfluss, wo Verzicht die Menschen reicher machen würde. „Von dem, was wirklich wichtig ist“, sagt er, „haben wir seltsamerweise zu wenig.“ Zeit, Demut, Empathie - in einer Welt, wie er sie wahrnimmt, in der grenzenloses Wachstum als unverzichtbar gilt, ist dafür kaum Platz.
An der Schwelle zum fünften Lebensjahrzehnt trifft Jörg Barner eine Entscheidung. Er will dem endlich Raum geben, was sich als irritierendes Unbehagen und diffuse Sehnsucht in sein Leben geschlichen hat, als er noch ein Teen- ager war. Dasselbe Gefühl, das ihn zweifeln ließ, ob ein Leben mit Stechuhr irgendeinen Sinn ergibt. Seinen Job als Maschinenbau-Ingenieur hat er irgendwann eingetauscht gegen den des Waldarbeiters und Viehhirten in den Südtiroler Bergen. Am 17. April 2018 beginnt dann sein bisher größtes Abenteuer. Der 40-Jährige aus Owen packt das Nötigste zusammen, setzt sich aufs Fahrrad und fährt los. 535 Tage lang, 32 802 Kilometer weit, einmal um den Erdball.
Er schläft in Abwasserrohren auf 4000 Meter Höhe in den peruanischen Anden, ist Gast in der Jurte von Yak-Hirten in Tadschikistan und er kommt im Staub des Pamir-Highways in den Bergen Zentralasiens beinahe um, als er dehydriert und völlig entkräftet am Straßenrand zusammenbricht. Woher die Hilfe kommt, hat er nie erfahren. Stunden später holt ihn die Kochsalzlösung, die in seine Venen sickert, zurück ins Leben. Eine Grenzerfahrung, die er Dummheit nennt. Ein Moment der Respektlosigkeit gegenüber Hitze, Trockenheit und dünner Höhenluft. Trotzdem sagt er: „Äußerlich wirklich bedroht gefühlt, habe ich mich während der gesamten Reise nie.“
Offenheit, Gastfreundschaft und Toleranz erlebt Jörg Barner vor allem jenseits der Grenzen der sogenannten freien Welt. Im kleinen Dorf Mazdavand im Iran nahe der Grenze zu Turkmenistan lädt man ihn ein, in der Moschee sein Lager aufzuschlagen, weil es spät nachts keine andere Schlafstatt gibt. In Vietnam bahnt ihm ein Bauarbeiter im strömenden Regen mühsam einen Weg durch Schlammmassen, nachdem ein Erdrutsch die Straße verschüttet hat. Er erlebt Hitze und Einsamkeit in den kargen Weiten Asiens, tobende Stürme in Feuerland und klirrende Kälte im kanadischen Norden. Eineinhalb Jahre lang ernährt er sich überwiegend von Nüssen, Trockenfrüchten und Brot. „Von allem, was energiereich ist und sich problemlos transportieren lässt“, sagt er. Auf einen Camping-Kocher im Gepäck hat er verzichtet - aus Gewichtsgründen. Dass der Tisch trotzdem immer wieder reich gedeckt ist, liegt an den Menschen, denen er unterwegs begegnet und die ihn zu sich einladen. Auf einer Farm in Tasmanien findet er Arbeit, schert Schafe, repariert Zäune. Im großelterlichen Betrieb, den heute der Bruder in Nabern bewirtschaftet, hat Jörg Barner früh gelernt, was man als Landwirt braucht. „Wenn‘s drauf ankam“, sagt er, „hat das immer mehr gezählt als das, was ich im Studium gelernt habe.“ Eine zweite Regel, die er im Laufe seiner langen Reise verinnerlicht: „Je ärmer die Gegend, desto aufgeschlossener und herzlicher ihre Menschen.“ Eine Herzlichkeit, die ohne Sprache auskommt und die erst wieder Risse bekommt, als er in der Lage ist, sich mit Worten zu verständigen. Im US-Bundesstaat Oregon schmeißt ihn ein schwer bewaffneter Security-Mann kurzerhand aus einem Supermarkt, weil er Rad und Gepäck so am Eingang platziert hat, dass er beides im Blick behält. Gleichzeitig erfährt er am selben Ort, dass auch zehn verschiedene Sorten laktosefreier Milch ein Grund sein können, sich an der Kasse über mangelnde Vielfalt zu beschweren.
Dass er das alles nicht mehr will, war Jörg Barner lange klar, bevor er an diesem 5. Oktober 2019 erstmals die Teck wieder vor Augen hat. Durchnässt und erschöpft nach einer langen Schlussetappe im Regen über Schwarzwald und Schwäbischer Alb passiert er das Ortsschild in Owen. Im Tagebuch der Mutter ist unter dem Datum ein einziger Satz vermerkt: „Er ist wieder da.“ Er lädt sein Gepäck ab, setzt sich wieder aufs Rad und fährt vom Elternhaus den steilen Weg hinauf zur Teck. „Erst damit“, sagt er, „war ich angekommen.“
Lange bleiben wird er nicht. In der Schweiz gibt es eine Alm, die er als Senner auf Zeit bewirtschaften will. Ein Angebot, das nach einer flüchtigen Bekanntschaft unterwegs plötzlich auf der Straße lag. Irgendwo in der Atacama-Wüste zwischen Chile und Peru. Was danach kommt, weiß er noch nicht. Nur eines steht für ihn fest: „In einem Büro ist für mich kein Platz mehr.“