Weilheim und Umgebung

„Gefestigt und auf die Füße gestellt“

Heimerziehung Seit 70 Jahren nimmt der Michaelshof in Hepsisau Kinder und Jugendliche auf, die zu Hause oder in der Schule Probleme haben: Vier Geschichten aus vier Jahrzehnten. Von Bianca Lütz-Holoch

Proben fürs Festwochenende: Unter anderem stehen Zirkusvorführungen der Schüler auf dem Programm.Foto: Carsten Riedl
Proben fürs Festwochenende: Unter anderem stehen Zirkusvorführungen der Schüler auf dem Programm.Foto: Carsten Riedl

Es war die Zeit, als noch die Düsenjäger über die Kaiserberge donnerten. Damals, als gerade der Fernsehturm gebaut wurde. „1955 bin ich auf den Michaelshof gekommen“, erzählt Wolfgang Schulze, der eigentlich anders heißt. Die Erziehungseinrichtung Michaelshof gab es damals noch keine zehn Jahre.

Wolfgang Schulzes Eltern flohen 1945 von Ostdeutschland in den Westen. Er war ein Baby, gerade mal sechs Wochen alt. Die Berufswünsche des Vaters platzten, die Mutter war oft krank. „Meine Eltern waren überfordert – auch mit mir“, analysiert Schulze rückblickend.

„Als ich elf Jahre alt war, war meine Schulkarriere auf dem Nullpunkt angelangt“, erzählt der heute 71-Jährige. Auch ein Wechsel auf die Waldorfschule half nichts. Als Wolfgang Schulze dann noch anfing, zu klauen, empfahl seine Lehrerin den Michaelshof in Hepsisau. Für den Elfjährigen bedeutete das, weit weg zu ziehen von den Eltern, die in Nordrhein-Westfalen lebten. „Das fand ich nicht so prickelnd.“

Trotzdem hat er die Zeit auf dem Michaelshof in guter Erinnerung. „Die zwei Jahre dort haben mich gefestigt und auf die Füße gestellt“, ist Schulze überzeugt. „Ich habe Ruhe gefunden.“ Auch schulisch und beruflich ist Wolfgang Schulze anschließend seinen Weg gegangen. Dem Schulabschluss folgten eine Lehre, ein Physikstudium und 30 Jahre Arbeit als Physiker.

Am Michaelshof beeindruckt hat Wolfgang Schulze der Umgang mit den Kindern und der Stellenwert, der jedem Einzelnen eingeräumt wurde: „Das fand ich bereits damals faszinierend.“ Eine Schlüsselfigur war für ihn der Heilpädagoge Ivan Raeymaekers, der dort lange Zeit Erzieher war und bis heute noch auf dem Michaelshof wohnt.

Zur Erlebnispädagogik gefunden

An Raeymaekers erinnert sich auch Peter Schrey noch gut und gerne. Er kam in den Sechzigerjahren nach Hepsisau. „Ich war ein Junge, von dem man sagen würde: Er ist verhaltensauffällig“, beschreibt es der heute 62-Jährige. In Frankfurt kam er auf die Waldorfschule. Dort empfahl man den Eltern aber, ihr Kind in eine Einrichtung zu schicken, in der mehr Rücksicht auf dessen langsame Entwicklung genommen werde. „Eigentlich war zu der Zeit auf dem Michaelshof kein Platz frei“, erzählt Peter Schrey. „Aber meine Mutter ist trotzdem mit mir hingefahren – und sie nahmen mich.“

Ein Jahr hat Peter Schrey in Hepsisau verbracht. Ein Jahr, das ihn geprägt hat. „Schon damals ist in mir der Wunsch entstanden, eine heilpädagogische Ausbildung zu machen“, sagt Schrey. Die Atmosphäre in der Einrichtung, das herzliche Verhältnis zu den Erziehern, die Nähe zur Natur und „dass man sich um die Kinder kümmert“ – all das wollte Peter Schrey selbst einmal weitergeben. Nach der Schule ging er auf einen biodynamischen Hof und absolvierte anschließend eine heilpädagogische Ausbildung.

Peter Schrey hat in einer Gemeinschaftspraxis auf den Fildern als Kinder- und Jugendtherapeut gearbeitet. Und er gründete den gemeinnützigen Verein Aventerra mit Sitz in Stuttgart (www.aventerra.de). Dort ist er geschäftsführender Vorstand. Der Verein hat sich der Erlebnispädagogik verschrieben und bietet Reisen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an.

Auch wenn es auf dem Michaelshof nie Erlebnispädagogik genannt wurde – „von den Wanderungen, die wir unternommen haben, und den Erlebnissen in der Natur habe ich in meiner Persönlichkeitsentwicklung sehr profitiert“, betont Peter Schrey.

Die Liebe des Lebens getroffen

Schicksalhaft war die Zeit auf dem Michaelshof für Steve und Corinna Lutz (Namen geändert). Corinna kam 1980 mit 13 Jahren auf den Michaelshof, weil sie Probleme in der Schule hatte. Das erste Jahr war für sie geprägt vom Heimweh nach den Eltern, aber auch von den Herausforderungen des Internatslebens, in dem es viel mehr Regeln und Pflichten gab, als in ihrem freizügigen Elternhaus. Aber dann kam Steve – mit italienischen Wurzeln, in Deutschland geboren und in Portugal aufgewachsen. „Ich war von der ersten Minute an von ihm verzaubert“, erinnert sich Corinna Lutz. Es folgten zwei Jahre, in denen die beiden Jugendlichen Schul- und Freizeit miteinander verbrachten und sich annähern durften. „Es ist toll, dass die Erzieher das zugelassen und uns nicht gebremst haben“, sagt Corinna Lutz und verrät: „Nächstes Jahr sind wir 35 Jahre zusammen und seit 20 Jahren verheiratet.“

„Mir hat der Michaelshof sofort gefallen“, erzählt Steve Lutz. In Portugal, auf der deutschen Schule, kam der damals 14-Jährige schlecht mit. Deshalb sollte er nach Deutschland ins Internat wechseln. „Ich durfte wählen zwischen Schloss Salem und dem Michaelshof – und ich habe mich für den Michaelshof entschieden“, erinnert er sich. „Die Atmosphäre, die Erzieher – all das hat mir sofort zugesagt.“ Steve hatte auch Glück mit der Wohngruppe und mit den Gruppeneltern: „Mit ihnen konnte ich über alles sprechen“, sagt er. Heute arbeiten Corinna und Steve Lutz beide als Mediengestalter und haben zwei Kinder.

„Die Jahre haben mir gut getan“

Noch ganz frisch sind die Erinnerungen von Nick Vinkesevic. „Ich war bis zum Sommer 2015 auf dem Michaelshof“, erzählt der 17-Jährige. Drei Jahre hat Nick dort verbracht. „Ich hatte Probleme zu Hause“, erzählt er: „Meine Eltern hatten sich getrennt, ich bekam Stress mit meiner Mutter und meiner Schwester, und in der Schule lief es immer schlechter.“ Schließlich schaltete seine Mutter das Jugendamt ein, und Nicks Großvater schlug den Michaelshof vor. „Dann ging es ruckzuck, ich habe dort hospitiert – und es war genau das Richtige für mich“, sagt Nick. Er hatte nette Mitschüler und ein gutes Verhältnis zu den Erziehern. „Dort haben sie mich verstanden“, sagt er. Fernab von Medien und Problemen zu Hause ist Nick wieder auf die Beine gekommen: „Ich hatte kein Handy und keinen PC und habe wieder angefangen, Gitarre zu spielen“, erzählt er.

Tage mit Heimweh – die gab es schon. „Aber es war nicht richtig schwer für mich, ohne Eltern zu wohnen“, sagt er und fügt hinzu: „Meine Mutter fand es viel schlimmer.“ Jetzt wohnt Nick wieder zu Hause, zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester: „Das klappt super – ich glaube, die Jahre auf dem Michaelshof haben mir gut getan.“ Das scheint auch in schulischer Hinsicht zu gelten: Seinen Hauptschulabschluss auf dem Michaelshof hat Nick mit einem Schnitt von 1,7 bestanden. Derzeit besucht er eine Berufsschule, wo er seine mittlere Reife macht.

Präsent ist der Michaelshof für Nick aber noch immer – nicht nur gedanklich: „Manchmal treffe ich mich noch mit meinen Erziehern, und zu einigen Mitschülern habe ich auch noch gute Kontakte.“

Der Michaelshof in Hepsisau: Für viele Kinder und Jugendliche ist er eine wichtige Station im Leben gewesen. Foto: Archiv
Der Michaelshof in Hepsisau: Für viele Kinder und Jugendliche ist er eine wichtige Station im Leben gewesen. Foto: Archiv