Weilheim und Umgebung

Hier weht ein anderer Wind

Musik An der Orgel in der Bissinger Marienkirche ist der Motor kaputt. Der Organist Jörg Tobias freut sich, dass er deshalb mit „fußgemachtem Luftzug“ spielen darf. Von Peter Dietrich

Damit Organist Jörg Tobias (oben Bildmitte) alle Register ziehen kann, muss Kalkant Fritz Grünzweig in der Tretanlage ordentlich
Damit Organist Jörg Tobias alle Register ziehen kann, muss Kalkant Fritz Grünzweig in der Tretanlage ordentlich ran. Foto: Peter Dietrich

Ein rundes Jahrhundert ist es her, dass der elektrische Strom nach Bissingen kam. In die Orgel der Marienkirche aus dem 14. Jahrhundert wurde damals sogleich ein Motor eingebaut. Jetzt muss dieser Motor ersetzt werden, eine Reparatur tut es nicht mehr. Denn der alte Motor könnte heiß laufen, das würde Brandgefahr bedeuten.

Für den Notfall haben die Bissinger damals zur alternativen Winderzeugung weiterhin eine mechanische Kurbel belassen. Denn so zuverlässig wie heute war die Stromversorgung am Anfang noch nicht. Die Kurbel sei nun unnötig, wurde dann aber bei einer Kirchenrenovierung befunden - also wurde sie weggerissen. Doch 1996 investierte die Kirchengemeinde rund 10 000 Mark in eine Tretanlage. Gäbe es sie nicht, müsste die Gemeinde nun für einige Wochen auf ihren Orgelklang verzichten.

Orgel in der Bissinger Marienkirche - Organist Jörg Tobias und Kalkant Fritz Grünzweig in Aktion
Kalkant Fritz Grünzweig ist eifrig am Treten. Foto: Peter Dietrich

Einer, der diese Tretanlage gerne bedient, ist Fritz Grünzweig. Er ist damit ein Kalkant, auch Calcant geschrieben. Das kommt vom lateinischen „calcare“, also treten: Der Kalkant ist der Balgtreter, der beim Orgelspiel für den nötigen Wind sorgt. Um die Tretanlage mit ihren drei Steigbügeln zu bedienen, ist ein gewisses Körpergewicht nötig. „Aber Konfirmanden können das auch, sie müssen vielleicht mit den Händen mithelfen“, sagt Fritz Grünzweig. „Das klappert ein wenig. Je mehr Register der Organist zieht, desto schneller kommen die Pedale wieder hoch.“ Die Konfirmanden haben in diesem Fall den Organisten in der Hand, vielleicht sollte man ihnen nicht zu laut sagen: Wenn sie das Treten einstellen, könnte der Organist spielen, so viel er will, es käme kein einziger Ton mehr.

Orgel in der Bissinger Marienkirche - Register
Symbolfoto

Jörg Tobias, der nicht nur Organist, sondern auch Orgelbauer ist, schwärmt von der Fußarbeit. „Das klingt nicht so statisch, der Ton bleibt nicht so konstant. Das klingt schöner, hier weht ein anderer Wind.“ Den Anteil an Orgeln, bei denen noch ohne Motor Wind erzeugt werden kann, schätzt Tobias auf etwa 20 Prozent. „Im Albvorland mit seinen vielen historischen Instrumenten könnten es auch 30 bis 50 Prozent sein.“ Auch kleine Truhenorgeln wie in der Kirchheimer Martinskirche hätten häufig eine Tretanlage. Sie werde vom Organisten selbst bedient, er habe dort ja die Füße frei. „Der Organist erzeugt den Wind selbst, wie ein Akkordeonspieler.“ Jörg Tobias lässt generell immer wieder vom Kalkanten den Wind erzeugen - wegen des Klangs.

Dank der Tretanlage arbeitet der Kalkant direkt neben der Orgel. Die Steigbügel sind mit dicken Seilen mit der Balgstube direkt darüber verbunden. Dort wäre es zum Treten eng und im Winter sehr kalt, beim Weg dorthin muss man sich zweimal unter Balken hindurchbücken. Dass direkt in der Balgstube getreten wurde, gab es aber in Kirchen früher auch. Eine Lampe zeigte dem einsamen Kalkanten an, wann das Treten beginnen sollte und wann er wieder aufhören konnte.

Orgel in der Bissinger Marienkirche - Balgstube über der Orgel
Balgstube über der Orgel. Foto: Peter Dietrich

Man könnte das Treten von Hand vielleicht auch noch anders bewerben: Wie wäre es mit einem CO2-freien Gottesdienst? Ohne Licht und Heizung ginge im Sommer ja noch, aber was ist mit dem Mikrofon und den Glocken?

Die Bissinger Orgel

Eine Orgel gab es in der Marienkirche schon ab 1750. Sie stand im Chor und war zu schwach, deshalb mussten immer zusätzlich die Posaunenbläser ran. Johann Victor Gruol und Söhne bauten 1824 die neue Orgel. Für sie wurde die Bissinger Marienkirche nach Süden erweitert und das Kirchendach um ein mit Sternen bemaltes Gewölbe erhöht.

Der zentrale Platz ging auf Erfahrungen in Nabern zurück. Dort sollen die im Chor aufgestellte Orgel und die Gemeinde zu weit voneinander entfernt gewesen sein. Der Organist war mit dem Choral schon fertig, während die Gemeinde noch sang. In Bissingen wurde der kraftvolle Ton der neuen Orgel für hinreichend befunden. Also hielt der Kirchenkonvent das Posaunenblasen fortan für unnötig. Er verpflichtete die Posaunenbläser, stattdessen künftig vierstimmig zu singen. So entstand der Bissinger Kirchenchor.

Johann Victor Gruol war bei Johann Ludwig Goll in Weilheim in die Lehre gegangen. Dann richtete er in Bissingen im Saal der späteren „Krone“ einen Orgelbaubetrieb ein. Mit der Bissinger Orgel mit 20 Registern wollte er sein Können zeigen. Zur Einweihung am 1. Advent 1824 kamen Sachverständige aus nah und fern. Das Barockgehäuse der Orgel fiel aus der Zeit, eigentlich hatte längst der schlichtere Klassizismus das Barock abgelöst.

Um 1880 und 1926 wurden die Register verändert und ergänzt. Bei der Renovierung von 1969 entfernte Orgelbaumeister Richard Rensch aus Lauffen am Neckar die aufgeschraubten Holzleisten mit den Porzellanschildchen. Darunter fand er rechteckige Papierschilder mit identischer Angabe. Als er auch diese entfernte, fand er die ovalen Originalschilder von Johann Victor Gruol. So konnte er das ursprüngliche Klangbild wieder herstellen. pd