Der momentane Lockdown, auch in seiner Light-Version, ist notwendig. „Es gibt keine Alternative“, sagt Professor Winfried Kern, Infektiologe an der Uni-Klinik Freiburg und einer der Pandemie-Berater der baden-württembergischen Landesregierung, gleich zu Beginn seines Online-Vortrags. Eingeladen haben ihn der grüne Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel sowie die Parteikollegen und Landtagsabgeordneten Andrea Lindlohr (Esslingen) und Andreas Schwarz (Kirchheim). Die Antwort, wenn auch schon oft gehört, lautet auch bei Kern: „Wir müssen zusehen, dass die Menge an Infektionen nicht aus dem Ruder läuft, sonst können wir Kranke nicht ausreichend behandeln, wenn die medizinische Kapazität überschritten wird. Der Lockdown war sinnvoll, weil er eins geleistet habe: die exponentielle Steigung zu brechen.
Das trifft auch auf den Landkreis Esslingen zu. Wie Andreas Schwarz bemerkt, bewegen sich die Infektionskurven zwar nur noch seitwärts, sinken aber auch nicht. „Woran das genau liegt, kann ich Ihnen nicht sagen“, räumt Winfried Kern ein. Grundsätzlich sei es aber schwieriger, in Gebieten mit hohen Inzidenzen von mehr als 50 Infizierten in einer Woche pro 100 000 Einwohner die Infektionszahlen zu senken, weil ein Tracking bis zum Ursprung der Infektionen nicht mehr möglich sei. Das hänge auch mit Verzögerungen bei den Anrufen zur Nachverfolgung zusammen. „Eine App würde helfen, aber die hat ja bekanntermaßen Limits“, sagt er Experte. Anders als in Esslingen sei es im dünner besiedelten Schleswig-Holstein einfacher, mit Lockdown-Maßnahmen, die Zahlen zu senken. Dort liegen Inzidenzen teilweise bei unter 30. Selbst in Freiburg konnte man die Werte deutlich senken, aber im Großraum Stuttgart sei die „Kontaktmengenreduktion“ deutlich schwieriger, allein wegen der hohen Bevölkerungsdichte.
Nun soll es aber auch dort Lockerungen zum Weihnachtsfest geben. „Dass sich in einer Familie fünf bis zehn Personen treffen dürfen, halte ich nicht für problematisch. Wenn aber an Silvester geböllert und gefeiert wird mit Freunden und Bekannten, ist das eine ganz andere Größenordnung“, sagt der Experte und rät dringend von Feiern ab, denn diese seien nicht kontrollierbar.
Auch zum Thema Immunität von Genesenen und dem Hoffnungsbringer eines Impfstoffs äußert sich Professor Winfried Kern. „Nach einer Woche tritt bei 95 Prozent der Patienten eine schützende Immunität gut messbar ein“, sagt er. Die Konzentration der Antikörper nehme zwar nach drei bis sechs Monaten wieder ab, aber das sei bei fast allen Infektionskrankheiten der Fall. Es kommt demnach nicht auf die Menge an, sondern: „Der Körper kann eine Gedächtnisimmunität aufbauen und das Virus erkennen und dann mit einer erneuten Anitkörperproduktion beginnen“, sagt der Freiburger Experte.
Die Impfstudien zeigen diesbezüglich eine gute Immunität. „Da kann man nicht meckern“, sagt der Infektiologe. Er persönlich würde sich impfen lassen, sobald es möglich ist - „auch wenn es ein sehr neuer Impfstoff ist“. Bei der Entwicklung von Impfstoffen sei viel erreicht worden, deswegen gehe es heute viel schneller. Sprich: Er hat Vertrauen in die Verträglichkeit. Bis er allerdings in den Genuss des Impfens kommt, wird es noch dauern.
Erst mal wären die Menschen aus dem „Blaulicht-Bereich“ dran, wie Polizei und Ärzte. Dann geht es um die sogenannten „vulnerablen“ Gruppen. Doch auch das geht nicht so schnell, warnt Kern. Zunächst muss man definieren, wer vulnerabel ist. Dann müsste man testen, ob der Impfstoff bei allen wirkt, etwa bei Krebspatienten. Und dann bleibt noch die Frage, wie man alle vulnerablen Patienten erreicht. „Sie brauchen mobile Teams, aber wie viele gibt es, welche Kapazität haben die und welche Technik steht ihnen zur Verfügung?“, fragt er. Der Freiburger Professor dämpft damit auch gleich zu große Erwartungen, die durch die Entwicklung des Impfstoffs geweckt werden. Denn der Blick auf das Detail zeigt: Die Umsetzbarkeit hängt von komplexen Fragestellungen ab.
Schließlich geht Kern noch auf das oft angeführte Argument ein, dass sich die Corona-Pandemie nicht erkennbar auf die Sterblichkeit in der Bevölkerung auswirke. „In Österreich zeigt die zweite Welle eine erkennbare Übersterblichkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir die in Deutschland komplett vermeiden können. Denn anfangs waren die hohen Fallzahlen regional konzentriert und sanken dann wieder. Aber in der zweiten Welle sind sie sehr diffus.“