Weilheim und Umgebung

„Man muss es aushalten können, dass Kinder unterschiedlich ticken“Nachgefragt

Die Leiterin der Ohmdener Grundschule, Gabriele Seitz, ist landesweit als Expertin für individuelles Lernen anerkannt

Seit sieben Jahren leitet ­Gabriele Seitz die Grundschule in Ohmden. Nach und nach hat sie ein neues pädagogisches Konzept eingeführt, das landesweit Beachtung findet. Mit dem Teckboten hat die 45-Jährige über individuelles Lernen, Noten, Sitzenbleiben und ­Bildungspläne gesprochen.

Gabriele Seitz
Gabriele Seitz

Sie gelten als Koryphäe auf dem Gebiet des individuellen Lernens. Wie ist es dazu gekommen?

GABRIELE SEITZ: Ich arbeite jetzt schon seit 14 Jahren so. Angefangen hat alles an meiner damaligen Schule in Stuttgart-Uhlbach. Wir waren vier junge Kolleginnen dort und merkten: So geht es nicht. Wir fanden die Jahrgangsmischung toll und gelangten darüber zum individuellen Lernen.

Und mit Ihnen kam das Ganze dann nach Ohmden.. .

SEITZ: In Uhlbach geriet die Sache ins Stocken, als wir eine neue Schulleitung bekamen. Also sah ich mich nach einer kleinen Schule um, wo ich das Konzept umsetzen konnte.

Wie haben Sie Ihre Kolleginnen in Ohmden überzeugt?

SEITZ: Ich habe das neue pädagogische Konzept schleichend eingeführt und erst einmal bei meinem eigenen Lehrauftrag angefangen. Meine Kolleginnen habe ich nicht überfahren, sondern langsam mitgenommen. Anfangs konnten sie es sich gar nicht vorstellen, so zu unterrichten, aber jetzt sind sie auch überzeugt davon.

Ihr Konzept des individuellen Lernens erinnert an das Prinzip der Gemeinschaftsschulen. Gibt es da Parallelen?

SEITZ: Ja natürlich – aber wir waren früher dran mit der Individualisierung. Hintergrund ist, dass man nicht alle 20 Kinder einer Klasse über einen Kamm scheren kann. Das funktioniert nicht mehr und das will keiner mehr. Schließlich möchten Eltern selbstständige, leistungsbereite Kinder haben, die mit Spaß und ohne Angst lernen. Jedes Kind sollte sich als kompetent erfahren dürfen.

Sollte das nicht im Sinne aller Grundschulen sein?

SEITZ: Angstfreies Lernen ist schon seit 2004 im Bildungsplan verankert. Und auch das individuelle Lernen sollte schon längst umgesetzt sein.

Warum gibt es das dann nicht schon überall?

SEITZ: Man muss schon Mut haben, um etwas Neues umzusetzen. Auch ich habe etliche Rückschläge aushalten müssen. Dazu kommt, dass ich neben meinem Lehrauftrag mit 20 Stunden nur acht Stunden für meine Leitungsfunktion zugewiesen bekomme. Das reicht vorne und hinten nicht.

Und trotzdem haben Sie Ihre Vision in Ohmden verwirklicht.

SEITZ: Lehrerin und Schulleiterin sein ist mein Traumberuf. Ich möchte die Schule weiterentwickeln und vor allem möchte ich, dass es den Kindern gut geht – und den Lehrern auch. Man muss schon viel Herzblut reinstecken. Aber ich finde es schlimm, wenn Lehrer ihre Visionen verlieren.

Führt das Konzept in Ohmden denn auch zu entsprechenden Lernerfolgen bei den Schülern?

SEITZ: Wir alle – Lehrer wie Eltern – mussten erst einmal lernen, es auszuhalten, dass Kinder unterschiedlich ticken. Aber es funktioniert. Bei den VERA-Vergleichstests schneiden wir immer überdurchschnittlich gut ab. Das hat einerseits sicher mit der ländlichen Idylle in Ohmden zu tun, aber es ist auch eine Bestätigung, dass unser Konzept erfolgreich ist.

Wie schaffen Sie es, dass Kinder angstfrei lernen?

SEITZ: Bei uns gibt es zum Beispiel keine Klassenarbeiten im herkömmlichen Sinne. Weil wir die Kinder in unterschiedlichem Tempo lernen lassen, schreiben sie ihre Arbeiten auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten – eben dann, wenn sie so weit sind. Für uns sind die Arbeiten auch nicht vorrangig ein Leistungsnachweis, sondern vielmehr ein Mittel der Lernstandserhebung oder Diagnose.

Wie halten Sie es denn mit Noten?

SEITZ: Wir benoten während des Schuljahres nichts. Stattdessen bespreche ich mit den Kindern, was sie schon können und was sie noch üben müssen. Die Kinder verfügen über eine sehr gute Selbsteinschätzung. Die Eltern bekommen in regelmäßigen Entwicklungsgesprächen eine Rückmeldung. An die Vorgabe, ab Klasse zwei Endjahresnoten zu geben, müssen wir uns aber halten. Auf Wunsch der Eltern gab es auch eine benotete Halbjahresinfo.

Ein anderer Angstfaktor ist ja das Sitzenbleiben. . .

SEITZ: Sitzenbleiben ist bei uns kein Thema. Wenn ein Kind eine Klasse nicht schafft, dann hat es Lücken, die schon vorher entstanden sind. Wir lassen dank des individuellen Lernens im eigenen Tempo und mithilfe der Lernwege keine Lücken entstehen. Die Verweildauer in der Eingangsstufe beträgt ein bis drei Jahre – wobei drei Jahre eher selten vorkommen.

Wie geht es den Kindern denn in den weiterführenden Schulen?

SEITZ: Unsere Kinder kommen gut klar mit den weiterführenden Schulen. Sie sind gestärkt und wissen, was sie können. Wir haben auch wenig Probleme mit dem Wegfall der Grundschulempfehlung gehabt. Bei uns wird überwiegend so angemeldet, wie wir es empfehlen. Die Schulwahl ist ein langer, gemeinsamer Prozess.

Was haben eigentlich die Dorfbewohner zu Ihrem fortschrittlichen Konzept gesagt?

SEITZ: Da muss ich den Ohmdenern ein Kompliment machen. Sie haben es mitgetragen. Zwar haben die Eltern nachgefragt und waren kritisch – aber auch offen. Vieles haben wir ausdiskutiert. Die Mehrheit steht hinter dem Konzept.

Gabriele Seitz ist seit dem Jahr 2008 Leiterin der Ohmdener Grundschule. An der Landesakademie für Lehrerfortbildung in Bad Wildbad gab sie von 2006 bis 2011 Kurse zum Thema jahrgangsgemischtes Lernen. Auch für das Schulamt Nürtingen ist Gabriele Seitz im Bereich des individuellen Lernens jahrelang beratend tätig. Ganzjährig kommen regelmäßig andere Schulen nach Ohmden, um zu hospitieren. Neben Einblicken in den Lernalltag erhalten sie auch theoretische Grundlagen.