Zwischen Neckar und Alb
Al­la­hu ak­bar auch in Ess­lin­gen?

Kultur Sol­len Mu­ez­zin-Ru­fe wie in Nord­rhein-West­fa­len auch am Ne­ckar zur mul­ti­re­li­giö­sen Nor­ma­li­tät wer­den? Die Stadt­de­ka­ne der christ­li­chen Kon­fes­sio­nen sind skep­tisch, der Rab­bi­ner der Ess­lin­ger Syn­ago­ge sagt ja, die Mus­li­me selbst schwei­gen. Von Mar­tin Mez­ger

Viel Wir­bel um ei­ne An­ge­le­gen­heit, die so neu auch in deut­schen Lan­den nicht ist: Min­des­tens seit den 80er-Jah­ren er­tönt in nord­rhein-west­fä­li­schen Städ­ten mit re­la­tiv ho­hem mus­li­mi­schem Be­völ­ke­rungs­an­teil re­gel­mä­ßig der laut­spre­cher­ver­stärk­te Ruf des Mu­ez­zins. In­zwi­schen hört man ihn auch in ei­ni­gen Städ­ten au­ßer­halb des Bun­des­lan­des. Die Schlag­zei­le, die Stadt Köln er­lau­be künf­tig auf An­trag frei­tags Mu­ez­zin-Ru­fe, rausch­te trotz­dem kürz­lich durch den Blät­ter­wald und flu­te­te die So­ci­al-Me­dia-Ka­nä­le. Mal ganz ab­ge­se­hen da­von, ob das Wort „er­lau­ben“ im Rechts­kon­text der Re­li­gi­ons­frei­heit das rich­ti­ge ist: Eben­so merk­wür­dig wie die hoch­ge­schwapp­te Er­re­gung über das Köl­ner „Mo­dell­pro­jekt“ ist die Tat­sa­che, dass bis­lang kei­ne der 35 Mo­schee­ge­mein­den ei­nen Mu­ez­zin-Ruf be­an­tragt hat.

Auch in Ess­lin­gen ist – je nach Sicht­wei­se – die Chan­ce oder das Ri­si­ko ge­ring, dass dem­nächst „Al­la­hu ak­bar“ durchs Ne­ckar­tal schallt. Der künf­ti­ge OB Mat­thi­as Klop­fer (SPD) teilt mit, er ha­be „zu die­sem sen­si­blen The­ma“ sei­ne „Mei­nungs­bil­dung noch nicht ab­ge­schlos­sen“. Muss er auch nicht, denn we­der bei der Stadt noch beim Land­kreis weiß man von ei­nem ent­spre­chen­den An­sin­nen ei­ner Mo­schee­ge­mein­de. Auf Nachfrage gab es weder vom Verein Di­TiB noch von der Is­la­mi­schen Ge­mein­schaft Mil­li Görüs Auskunft dazu.

Wie vie­le Mus­li­me in Ess­lin­gen le­ben, ist un­be­kannt. Im Ein­woh­ner­mel­de­re­gis­ter er­fasst wer­den nur die Mit­glie­der öf­fent­lich-recht­li­cher Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten. Die Ess­lin­ger Mus­li­me ge­hen sta­tis­tisch un­ter in je­nen 52,7 Pro­zent der knapp 94 000 Ein­woh­ner, die kei­ner oder ei­ner an­de­ren Re­li­gi­on an­ge­hö­ren. Zum Ver­gleich: 25,4 Pro­zent sind evan­ge­lisch, 19,7 Pro­zent ka­tho­lisch. Stadt­spre­cher Nic­las Schlecht ver­weist auf ei­ne Schät­zung Stutt­garts von 2017, der zu­fol­ge rund zehn Pro­zent der Ein­woh­ner Mus­li­me sind.

Noch we­ni­ger An­halts­punk­te fin­det die Fra­ge, ob die hie­si­gen Mus­li­me über­haupt ei­nen Mu­ez­zin-Ruf wol­len. Als si­cher gilt, dass höchs­tens 20 Pro­zent der Mus­li­me in Deutsch­land ei­ner is­la­mi­schen Or­ga­ni­sa­ti­on oder Ge­mein­de an­ge­hö­ren. Was kei­nes­wegs hei­ßt, die Üb­ri­gen sei­en nicht re­li­gi­ös. Re­gu­la Fors­ter, Pro­fes­so­rin der Is­lam­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen, schätzt, dass „ma­xi­mal ein Drit­tel“ der hier­zu­lan­de le­ben­den Mus­li­me ih­ren Glau­ben prak­ti­zie­ren, mit gro­ßen Un­ter­schie­den je nach Her­kunfts­re­gi­on. „Gläu­big sind mehr. Die­je­ni­gen von ih­nen, die die Got­tes­diens­te be­su­chen, wür­den ver­mut­lich ei­nen Mu­ez­zin-Ruf be­grü­ßen. Das ist aber nicht die Mehr­heit.“

Fors­ter selbst hält den öf­fent­lich hör­ba­ren Ge­bets­ruf in Deutsch­land grund­sätz­lich für „der Re­li­gi­ons­frei­heit an­ge­mes­sen“. Sol­che äu­ße­ren Zei­chen der Prä­senz könn­ten die Teil­ha­be und da­mit die Ver­ant­wor­tung der Mus­li­me in der Ge­sell­schaft för­dern – im Un­ter­schied zum Rück­zug in Hin­ter­hof­mo­sche­en. Al­ler­dings räumt die Wis­sen­schaft­le­rin ein, dass is­la­mi­sche Sym­bo­lik in ei­ne „pro­pa­gan­dis­ti­sche Macht­de­mons­tra­ti­on“ um­schla­gen kön­ne, wenn ei­ne Mo­schee­ge­mein­de et­wa vom tür­ki­schen oder vom sau­di­schen Staat ge­steu­ert wer­de.

Das sieht Mar­kus Grü­bel, Be­auf­trag­ter der Bun­des­re­gie­rung für die Re­li­gi­ons­frei­heit und Ess­lin­ger CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter, ganz ähn­lich. An­ders als Fors­ter unterscheidet er Glo­cken­ge­läut und Mu­ez­zin-Ruf, da das ei­ne ein „Si­gnal“, das an­de­re ein „Glau­bens­be­kennt­nis“ sei. Doch auch beim Text des Ge­bets­rufs gel­te die Re­gel: „Wenn zwei das Glei­che sa­gen, sa­gen sie nicht im­mer das­sel­be.“ Kon­kret: Bei ei­ner „welt­of­fe­nen Mo­schee­ge­mein­de, die am in­ter­re­li­giö­sen Dia­log teil­nimmt“, ha­be er kein Pro­blem mit dem Mu­ez­zin-Ruf, sagt Grü­bel – so­fern die Ak­zep­tanz des nach­bar­schaft­li­chen Um­felds ge­ge­ben sei. Bei an­de­ren mus­li­mi­schen Grup­pen be­stehe die Ge­fahr ei­ner „Stär­kung des po­li­ti­schen und ra­di­ka­len Is­lam“. In je­dem Fall für falsch hält der CDU-Po­li­ti­ker ei­ne „vor­aus­ei­len­de To­le­ranz“ wie in Köln.

We­gen des dar­in ent­hal­te­nen Glau­bens­be­kennt­nis­ses ste­hen auch der evan­ge­li­sche Stadt­de­kan Bernd Wei­ßen­born und sein ka­tho­li­scher Kol­le­ge Paul Ma­gi­no dem Mu­ez­zin-Ruf kri­tisch ge­gen­über. Für Wei­ßen­born wä­re „ein gu­tes Ver­trau­ens­ver­hält­nis zu den mus­li­mi­schen Part­nern, auch beim Be­kennt­nis zur Re­li­gi­ons­frei­heit“, Vor­aus­set­zung für ei­ne Zu­stim­mung. Ma­gi­no sieht den Wort­laut in­ter­pre­tier­bar als „ir­ri­tie­ren­den“ Do­mi­nanz­an­spruch, der kei­ne an­de­ren Re­li­gio­nen gel­ten las­se. Es kom­me al­so tat­säch­lich dar­auf an, was die je­wei­li­ge Mo­schee­ge­mein­de da­mit ver­bin­de. Nicht gel­ten lässt Ma­gi­no das blo­ße Ge­wohn­heits­recht als Ar­gu­ment ge­gen den Mu­ez­zin-Ruf: Je­de Tra­di­ti­on, „auch die des Glo­cken­läu­tens“, ha­be ein­mal an­ge­fan­gen.

Is­lam­wis­sen­schaft­le­rin Fors­ter weist dar­auf hin, dass der Ge­bets­ruf in der is­la­mi­schen Früh­zeit ein­ge­führt wur­de, um sich ge­zielt vom Glo­cken­läu­ten ab­zu­set­zen. Er blei­be da­mit aber im sel­ben re­li­giö­sen Funk­ti­ons­zu­sam­men­hang als for­mel­haf­ter Auf­ruf zum Ge­bet, nicht als Pa­ro­le von In­to­le­ranz und Macht­an­spruch: „Al­lah ist die ara­bi­sche Be­zeich­nung für Gott. Auch die ara­bi­schen Chris­ten be­ten zu Al­lah.“ Das Be­kennt­nis sei ei­nes des Mo­no­the­is­mus, wenn auch mit der Her­vor­he­bung Mo­ham­meds als Pro­phet.

 

Was der Muezzin ruft und was die Rechtssprechung dazu meint​

Auf­ga­be Der Ruf des ­Mu­ez­zins hat die Auf­ga­be, die Gläu­bi­gen zu den fünf fest­ge­leg­ten Zei­ten des ­Ta­ges zum Ge­bet zu ru­fen.
Über­set­zung Die Ein­gangs­for­mel des ara­bi­schen Tex­tes „Al­la­hu ak­bar“ kann mit „Gott ist sehr groß“ über­setzt wer­den, aber mit gesteigerter Be­deu­tung („Gott ist der Al­ler­grö­ß­te und un­ver­gleich­lich“). Das Wort „Al­lah“ steht im Ara­bi­schen, eben­so wie „Gott“ im Deut­schen, für die Gott­heit je­der Re­li­gi­on. Im is­la­mi­schen Kon­text ist, wie in je­der mo­no­the­is­ti­schen Re­li­gi­on, der ei­ge­ne Gott als ein­zig wah­rer ge­meint.
Wort­laut Ei­ne Über­set­zung des Mu­ez­zin-Rufs – oh­ne die bei Sun­ni­ten oder nur bei Schii­ten üb­li­chen Zu­satz­for­meln und oh­ne die ri­tu­ell vor­ge­schrie­be­nen Text­wie­der­ho­lun­gen – lau­tet: Al­lah (Gott) ist sehr groß (der Al­ler­grö­ß­te). Ich be­zeu­ge, dass es kei­nen Gott gibt au­ßer Al­lah. Ich be­zeu­ge, dass Mo­ham­med der Ge­sand­te Al­lahs ist. Eilt zum Ge­bet. Eilt zur Se­lig­keit. Al­lah ist sehr groß. Es gibt kei­nen Gott au­ßer Al­lah.
Re­li­gi­ons­frei­heit Die im Grund­ge­setz ver­an­ker­te Re­li­gi­ons­frei­heit ga­ran­tiert die Zu­läs­sig­keit des is­la­mi­schen Ge­bets­rufs – nicht an­ders als je­ne des lit­ur­gi­schen Glo­cken­ge­läuts der christ­li­chen Kir­chen.
Im­mis­si­ons­schutz Egal ob man ei­nen Me­tall­schred­der be­treibt, die Glo­cken läu­tet oder als laut­spre­cher­ver­stärk­ter Mu­ez­zin zum Ge­bet ruft: Das Bun­des­im­mis­si­ons­schutz­ge­setz re­gelt, was in den Ge­hör­gän­gen an­kom­men darf. Da­bei geht es nicht nur um De­zi­bel. Laut einem Ur­teil ist das lit­ur­gi­sche Glo­cken­läu­ten als zu­mut­bar und so­zi­al­ad­äquat hin­zu­neh­men. Richt­wer­te zur Lärm­im­mis­si­on gel­ten auf­grund der Re­li­gi­ons­frei­heit nur be­grenzt – an­ders als beim pro­fa­nen Uhr­zeit-Läu­ten. ­Über­tra­gen auf den ­Mu­ez­zin-­Ruf ­be­deu­tet dies, dass die recht­li­che Hür­de für ein aus­drück­li­ches Ver­bot hoch liegt. Es könn­te auch man­geln­de Zumut­barkeit für ein sol­ches Ver­bot ­her­an­ge­zo­gen wer­den, die jedoch ge­gen den Ver­fas­sungs­rang der Re­li­gi­ons­frei­heit ab­zu­wä­gen wä­re. Bei Mo­schee-Neu­bau­ten kann al­ler­dings ei­ne Re­ge­lung des laut­spre­cher­ver­stärk­ten, in der weiteren Um­ge­bung zu hö­ren­den Mu­ez­zin-Rufs oder ein Ver­zicht auf ihn im Rah­men des Bau­ge­neh­mi­gungs­ver­fah­rens ver­ein­bart wer­den. mez