Viel Wirbel um eine Angelegenheit, die so neu auch in deutschen Landen nicht ist: Mindestens seit den 80er-Jahren ertönt in nordrhein-westfälischen Städten mit relativ hohem muslimischem Bevölkerungsanteil regelmäßig der lautsprecherverstärkte Ruf des Muezzins. Inzwischen hört man ihn auch in einigen Städten außerhalb des Bundeslandes. Die Schlagzeile, die Stadt Köln erlaube künftig auf Antrag freitags Muezzin-Rufe, rauschte trotzdem kürzlich durch den Blätterwald und flutete die Social-Media-Kanäle. Mal ganz abgesehen davon, ob das Wort „erlauben“ im Rechtskontext der Religionsfreiheit das richtige ist: Ebenso merkwürdig wie die hochgeschwappte Erregung über das Kölner „Modellprojekt“ ist die Tatsache, dass bislang keine der 35 Moscheegemeinden einen Muezzin-Ruf beantragt hat.
Auch in Esslingen ist – je nach Sichtweise – die Chance oder das Risiko gering, dass demnächst „Allahu akbar“ durchs Neckartal schallt. Der künftige OB Matthias Klopfer (SPD) teilt mit, er habe „zu diesem sensiblen Thema“ seine „Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen“. Muss er auch nicht, denn weder bei der Stadt noch beim Landkreis weiß man von einem entsprechenden Ansinnen einer Moscheegemeinde. Auf Nachfrage gab es weder vom Verein DiTiB noch von der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs Auskunft dazu.
Wie viele Muslime in Esslingen leben, ist unbekannt. Im Einwohnermelderegister erfasst werden nur die Mitglieder öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften. Die Esslinger Muslime gehen statistisch unter in jenen 52,7 Prozent der knapp 94 000 Einwohner, die keiner oder einer anderen Religion angehören. Zum Vergleich: 25,4 Prozent sind evangelisch, 19,7 Prozent katholisch. Stadtsprecher Niclas Schlecht verweist auf eine Schätzung Stuttgarts von 2017, der zufolge rund zehn Prozent der Einwohner Muslime sind.
Noch weniger Anhaltspunkte findet die Frage, ob die hiesigen Muslime überhaupt einen Muezzin-Ruf wollen. Als sicher gilt, dass höchstens 20 Prozent der Muslime in Deutschland einer islamischen Organisation oder Gemeinde angehören. Was keineswegs heißt, die Übrigen seien nicht religiös. Regula Forster, Professorin der Islamwissenschaft an der Universität Tübingen, schätzt, dass „maximal ein Drittel“ der hierzulande lebenden Muslime ihren Glauben praktizieren, mit großen Unterschieden je nach Herkunftsregion. „Gläubig sind mehr. Diejenigen von ihnen, die die Gottesdienste besuchen, würden vermutlich einen Muezzin-Ruf begrüßen. Das ist aber nicht die Mehrheit.“
Forster selbst hält den öffentlich hörbaren Gebetsruf in Deutschland grundsätzlich für „der Religionsfreiheit angemessen“. Solche äußeren Zeichen der Präsenz könnten die Teilhabe und damit die Verantwortung der Muslime in der Gesellschaft fördern – im Unterschied zum Rückzug in Hinterhofmoscheen. Allerdings räumt die Wissenschaftlerin ein, dass islamische Symbolik in eine „propagandistische Machtdemonstration“ umschlagen könne, wenn eine Moscheegemeinde etwa vom türkischen oder vom saudischen Staat gesteuert werde.
Das sieht Markus Grübel, Beauftragter der Bundesregierung für die Religionsfreiheit und Esslinger CDU-Bundestagsabgeordneter, ganz ähnlich. Anders als Forster unterscheidet er Glockengeläut und Muezzin-Ruf, da das eine ein „Signal“, das andere ein „Glaubensbekenntnis“ sei. Doch auch beim Text des Gebetsrufs gelte die Regel: „Wenn zwei das Gleiche sagen, sagen sie nicht immer dasselbe.“ Konkret: Bei einer „weltoffenen Moscheegemeinde, die am interreligiösen Dialog teilnimmt“, habe er kein Problem mit dem Muezzin-Ruf, sagt Grübel – sofern die Akzeptanz des nachbarschaftlichen Umfelds gegeben sei. Bei anderen muslimischen Gruppen bestehe die Gefahr einer „Stärkung des politischen und radikalen Islam“. In jedem Fall für falsch hält der CDU-Politiker eine „vorauseilende Toleranz“ wie in Köln.
Wegen des darin enthaltenen Glaubensbekenntnisses stehen auch der evangelische Stadtdekan Bernd Weißenborn und sein katholischer Kollege Paul Magino dem Muezzin-Ruf kritisch gegenüber. Für Weißenborn wäre „ein gutes Vertrauensverhältnis zu den muslimischen Partnern, auch beim Bekenntnis zur Religionsfreiheit“, Voraussetzung für eine Zustimmung. Magino sieht den Wortlaut interpretierbar als „irritierenden“ Dominanzanspruch, der keine anderen Religionen gelten lasse. Es komme also tatsächlich darauf an, was die jeweilige Moscheegemeinde damit verbinde. Nicht gelten lässt Magino das bloße Gewohnheitsrecht als Argument gegen den Muezzin-Ruf: Jede Tradition, „auch die des Glockenläutens“, habe einmal angefangen.
Islamwissenschaftlerin Forster weist darauf hin, dass der Gebetsruf in der islamischen Frühzeit eingeführt wurde, um sich gezielt vom Glockenläuten abzusetzen. Er bleibe damit aber im selben religiösen Funktionszusammenhang als formelhafter Aufruf zum Gebet, nicht als Parole von Intoleranz und Machtanspruch: „Allah ist die arabische Bezeichnung für Gott. Auch die arabischen Christen beten zu Allah.“ Das Bekenntnis sei eines des Monotheismus, wenn auch mit der Hervorhebung Mohammeds als Prophet.
Was der Muezzin ruft und was die Rechtssprechung dazu meint
Aufgabe Der Ruf des Muezzins hat die Aufgabe, die Gläubigen zu den fünf festgelegten Zeiten des Tages zum Gebet zu rufen.
Übersetzung Die Eingangsformel des arabischen Textes „Allahu akbar“ kann mit „Gott ist sehr groß“ übersetzt werden, aber mit gesteigerter Bedeutung („Gott ist der Allergrößte und unvergleichlich“). Das Wort „Allah“ steht im Arabischen, ebenso wie „Gott“ im Deutschen, für die Gottheit jeder Religion. Im islamischen Kontext ist, wie in jeder monotheistischen Religion, der eigene Gott als einzig wahrer gemeint.
Wortlaut Eine Übersetzung des Muezzin-Rufs – ohne die bei Sunniten oder nur bei Schiiten üblichen Zusatzformeln und ohne die rituell vorgeschriebenen Textwiederholungen – lautet: Allah (Gott) ist sehr groß (der Allergrößte). Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist. Eilt zum Gebet. Eilt zur Seligkeit. Allah ist sehr groß. Es gibt keinen Gott außer Allah.
Religionsfreiheit Die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit garantiert die Zulässigkeit des islamischen Gebetsrufs – nicht anders als jene des liturgischen Glockengeläuts der christlichen Kirchen.
Immissionsschutz Egal ob man einen Metallschredder betreibt, die Glocken läutet oder als lautsprecherverstärkter Muezzin zum Gebet ruft: Das Bundesimmissionsschutzgesetz regelt, was in den Gehörgängen ankommen darf. Dabei geht es nicht nur um Dezibel. Laut einem Urteil ist das liturgische Glockenläuten als zumutbar und sozialadäquat hinzunehmen. Richtwerte zur Lärmimmission gelten aufgrund der Religionsfreiheit nur begrenzt – anders als beim profanen Uhrzeit-Läuten. Übertragen auf den Muezzin-Ruf bedeutet dies, dass die rechtliche Hürde für ein ausdrückliches Verbot hoch liegt. Es könnte auch mangelnde Zumutbarkeit für ein solches Verbot herangezogen werden, die jedoch gegen den Verfassungsrang der Religionsfreiheit abzuwägen wäre. Bei Moschee-Neubauten kann allerdings eine Regelung des lautsprecherverstärkten, in der weiteren Umgebung zu hörenden Muezzin-Rufs oder ein Verzicht auf ihn im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens vereinbart werden. mez