Zwischen Neckar und Alb

Allein mit Wunden, die keiner sieht

Hilfe Der Kreis will psychisch Kranke, die Opfer von Krieg und Gräueltaten wurden, stärker in den Fokus rücken. Für Berater ein schwieriges Feld. Von Bernd Köble

Wenn Erinnerungen an das Unvorstellbare wieder aufflackern:  Etwa die Hälfte aller Flüchtling in Deutschland leidet unter Trauma
Symbolfoto: Carsten Riedl

Keiner weiß, wie groß die Not wirklich ist. 800 Menschen, die unter den psychischen Folgen von Krieg, Vergewaltigung und Folter leiden, hat der Stuttgarter Verein Refugio im vergangenen Jahr betreut. Refugio ist eines der anerkanntesten Fachzentren bei der Arbeit mit Traumapatienten und außer in der Landeshauptstadt in 15 Landkreisen aktiv. Die Zahl der Opfer, die bisher Hilfe in Anspruch nehmen - da ist sich Michael Köber, Sachgebietsleiter für die Psychiatrieplanung im Kreis Esslingen sicher - ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Frage, die sich nicht nur Köber stellt: „Wie groß ist der Eisberg wirklich?“

Weil am Bedarf kein Zweifel herrscht, geht man im Kreis Esslingen nun in die Offensive. Zunächst nur in Form einer Konzeption, die spätestens im Sommer 2018 praxistauglich sein soll. Weil der Kreis gemeinsam mit freien Trägern über ein dichtes Netz an psychologischen Beratungsstellen verfügt, sollen diese Ressourcen jetzt aufgerüstet und fit gemacht werden für den schwierigen Umgang mit Gewaltopfern. Zusätzliches Personal, Weiterbildung, bessere Vernetzung. Eineinhalb zusätzliche Personalstellen - eine viertel Fachkraft an sechs verschiedenen Standorten - die von den Fraktionen im Kreistag im kommenden Haushalt noch bewilligt werden müssen, sind der Grundstock für ein verbessertes Angebot. Im Sozialausschuss gab es schon Mal viel Lob für das Konzept quer durch alle Fraktionen.

Bei der Qualifikation von Mitarbeitern macht sich der Landkreis die Erfahrungen von Refugio als Partner zunutze. Eine flächendeckende Grundversorgung mit eigenen Mitteln, beschreibt Sozialdezernentin Katharina Kiewel, worum es geht. Gleichzeitig muss sie bekennen: „Für uns ist dieses Thema Neuland.“

Und zudem schwierig. Die größten Hürden: Betroffene sind schwer zugänglich, wissen wenig über Hilfsangebote und haben zudem Probleme mit der deutschen Sprache. Aufklärung durch Betreuer vor Ort und die Weiterqualifizierung von bereits jetzt in der Flüchtlingshilfe engagierten Dolmetschern sind deshalb Teil des Konzepts. Die Hilfe der Anlaufstellen im Kreis hat allerdings klare Grenzen. Es geht um Beratung, um ein niederschwelliges Angebot und um Lotsenfunktion. Wo es um gezielte Therapien geht, sind Kliniken und Ärzte gefordert. „Auch dort muss man sich diesem Thema stellen,“ betont Landrat Heinz Eininger.

Eine Schnittstelle zur medizinischen Versorgung zu schaffen, auch darum geht es im Konzept. Mit im Boot sind neben dem Land auch Psychiatrie-Chefärzte, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung. Die Bundesregierung hat erst in diesem Jahr die Zulassungsvoraussetzungen bei der Behandlung von Traumapatienten für Kliniken und Fachpraxen erweitert. Ein Problem bleiben die Kosten für Dolmetscher, die bisher nur in Ausnahmefällen übernommen werden. Während der ersten 15 Monate sind die Sozialämter dafür zuständig. Wenn Asylanträge genehmigt oder Flüchtlinge eine Arbeitsstelle haben, sind es die Krankenkassen, die sich weigern. Für Michael Köber unverständlich: Wenn Therapien auf diesem Weg scheitern und Menschen in eine Welt entlassen würden, in der sie nicht zurecht kommen. Dafür kennt er einen Begriff: Drehtür-Psychiatrie.

Innerer Rückzug und Selbstmordgedanken

Menschen, die auf der Flucht aus Krisenregionen nach Europa kommen, benötigen nicht nur ein Bett und Lebensmittel, sondern auch medizinische Versorgung. Zu diesem Schluss kam die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtk) bereits im September 2015 in einer Studie, als die Flüchtlingswelle in Deutschland ihrem Höhepunkt zusteuerte.

Mindestens die Hälfte der Flüchtlinge in Deutschland sind demnach psychisch krank. Etwa 50 Prozent leiden aufgrund von Kriegs- und Gewalterfahrung unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen. 40 Prozent gelten als suizidgefährdet. Auch Kinder sind davon betroffen. Psychische Krankheit aufgrund traumatischer Erlebnisse tritt bei ihnen 15 Mal häufiger auf, als bei Kindern, die in Deutschland geboren wurden.

Zu den häufigsten Ursachen für schwere psychische Erkrankungen gehören nach Erlebnisberichten von Flüchtlingen der Beschuss mit Handfeuerwaffen und Granaten, Hunger und Durst während Haft, Todesdrohungen und Scheinexekutionen, Folter und sexuelle Erniedrigung oder Vergewaltigung.

Nach Einschätzung der BPtk ist die Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge alarmierend schlecht. Sie fordert mehr qualifizierte Gutachter und schnellere Verfahren. Nur vier Prozent der Flüchtlinge erhalten eine Psychotherapie.bk