Zwischen Neckar und Alb

Als der Filder-Express stehen blieb

Geschichte Vor 40 Jahren hat die Straßenbahn zwischen den Fildern und Esslingen den Betrieb eingestellt. Bis heute trauern viele dem Filder-Express nach. Er hatte mehr als 150 Millionen Fahrgäste. Von Jochen Bender

Foto: Stadtarchiv Ostfildern

Vorne am Triebwagen hing ein Trauerkranz, als die türkisfarbene Straßenbahn in der Nacht zum 1. März 1978 zum letzten Mal auf den Schienen unterwegs war. Das Volkslied „Muss i denn, muss i denn. . .“ sangen die Fahrgäste. Eigentlich hätten sie auch „This is the end“ von den Doors anstimmen können - es ging schließlich um das Ende der END-Straßenbahn , die damals auf eine über 50-jährige Geschichte zurückblicken konnte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Verkehrserschließung der Filder ein Top-Thema. Damals war es dort noch „still wie in einem abgelegenen Teil Württembergs“, wie man 1925 beklagte. Die Lage hatte sich verschärft, seit immer mehr Menschen von den Fildern als Arbeiter in den Fabriken im Neckartal anheuerten. Jeden Tag marschierten Hundertschaften im Pulk zu ihren Betrieben - und abends zurück. Für einen Neuhäuser, der in Esslingen arbeitete, bedeutete das einen 17 Kilometer langen Fußmarsch mit rund 350 Höhenmetern - von Montag bis Samstag, bei Wind und Wetter, im Sommer wie im Winter. Der öffentliche Schienennahverkehr verhieß die Lösung, fast überall schossen die Trassenplanungen ins (Filder-)Kraut.

Eine der Ideen wurde 1926 Wirklichkeit: Die Straßenbahn Esslingen - Nellingen - Denkendorf, abgekürzt END. Die Kosten beliefen sich auf rund eine Million Reichsmark, was damals sehr viel Geld war. Begonnen wurde mit fünf Trieb- und sieben Beiwagen, alle von der Maschinenfabrik Esslingen gebaut und in einem blau-grünen Farbton lackiert. Vom Esslinger Bahnhof ging es über die Pliensaubrücke die Serpentinen den Zollberg hoch bis nach Nellingen, wo auch das Straßenbahndepot mit Werkstatt entstanden war. Das Tonnendach des Zentrums an der Halle erinnert heute noch daran. Weiter ging die rund sechs Kilometer lange Fahrt bis zur Endstation „Ochsen“ bei der heutigen Denkendorfer Bank. 1929 erweiterte man die END für eine halbe Million Reichsmark um eine 5,5 Kilometer lange Strecke von Nellingen über Scharnhausen nach Neuhausen.

Die Fahrt war kein billiges Vergnügen, und von Esslingen hoch auf die Filder musste man mehr berappen als in der Gegenrichtung - schließlich brauchte die Straßenbahn den Zollberg hinauf mehr Strom als runterwärts. Dennoch stiegen viele auf die END um. Die Zeitersparnis war enorm: Von Esslingen dauerte es nur 33 Minuten bis Neuhausen. Bereits im ersten Jahr nutzten 1,25 Millionen Fahrgäste ihren neuen „Filder-Express“, der manchmal auch „Bauern-Express“ genannt wurde. Darunter waren auch viele Ausflügler, denn die seltene Überlandstraßenbahn war von Anfang an auch eine touristische Attraktion. In Werbebroschüren versprach die „Höhenstraßenbahn“ END eine erholsame Fahrt über die Filder, „weitab vom Großstadtlärm“.

Foto: Stadtarchiv Ostfildern

Auch in der Nachkriegszeit fuhr die END auf der Erfolgsspur. 1947 und 1948 waren mit jeweils vier Millionen Fahrgästen die absoluten Rekordjahre. 1959 sorgten 83 Mitarbeiter mit etwa 20 Trieb- und Beiwagen für eine reibungslose Personenbeförderung. Noch 1961 wurde die END täglich von 13 000 Menschen genutzt. Für die Kinder, die nach Esslingen in die höheren Schulen gingen, war es eine Mutprobe, Feldfrüchte durch die offene Tür von knapp vorbeifahrenden Bauernwagen zu stibitzen oder schon während der Fahrt abzuspringen. 1958 wurden den neuen Vorschriften gemäß noch zwei Garnituren mit Stahlaufbau angeschafft. Das war die letzte Neuerung. Die alte „Holzklasse“ fuhr aber weiterhin. Durch den ansteigenden Individualverkehr sank das Prestige der Straßenbahn.

Dringend notwendige wirtschaftliche und technische Sanierungen unterblieben. Die END wurde dadurch schon während ihres Betriebs immer mehr zu einer Museumsbahn. 1976 wurde noch das 50-jährige Bestehen gefeiert. Man blickte stolz auf mehr als 152 Millionen beförderte Personen und fast 29 Millionen gefahrene Kilometer zurück. Die Zukunft war jedoch schon lange ungewiss, es wurden seit Jahren nur noch die notwendigsten Instandhaltungsmaßnahmen getätigt.

Eine Modernisierung hätte 20 Millionen Mark gekostet, die Umstellung auf Busbetrieb hingegen nur fünf Millionen. Der Bus versprach weitere Vorteile: In Denkendorf zum Beispiel befand sich die Endhaltestelle weit oben im Dorf, der Bus konnte die Menschen aber auch im Unterdorf abholen. In Scharnhausen befand sich die Straßenbahnhaltestelle ebenfalls weit außerhalb. Dennoch sprach sich Ostfildern gegen die Stilllegung aus, wie letztlich auch Neuhausen. Gegen die Mehrheitsgesellschafter hatten sie jedoch keine Chance. Das „Aus“ der überalterten Straßenbahn zugunsten des Busverkehrs war besiegelt.

Am 28. Februar 1978, dem letzten Betriebstag, bedauerte Neuhausens Bürgermeister Werner Präg die Stilllegung der Straßenbahn und betonte weitsichtig deren Vorzüge: sie biete die Unabhängigkeit vom Straßenverkehr, sei sicher und dazu umweltfreundlich. Der Schwabe braucht normalerweise 40 Jahre, um klug zu werden. Er war es schon damals.

Info Der Autor Jochen Bender ist Stadtarchivar in Ostfildern.