Zwischen Neckar und Alb
Altes Handwerk in neuem Gewand: Weber waren einst Kellerkinder

Tradition Michaela-Stefanie Karle aus Aichwald webt in zweiter Generation. Die Heilpraktikerin konzentriert sich mittlerweile nur noch auf ein Muster pro Jahr. Von Marion Brucker

Michaela-Stefanie Karle ist in doppeltem Sinn zurückgekehrt – in das Haus, in dem sie geboren wurde, und zu den Wurzeln ihrer beruflichen Karriere. Die 62-Jährige sitzt vor einem Webstuhl in einem Nebengebäude ihres Elternhauses und zeigt auf den Eichenboden. „Hier standen die Wollkörbe. Darin habe ich gespielt“, sagt sie. Über ihr war damals das rhythmische Geräusch des Webstuhls zu hören, auf dem ihre Mutter Gobelins webte. An der Wand hängt ein Muster davon, darunter steht ein von ihrem Mann gefertigtes Regal aus derben Bauholzdielen. Ein von Karle bewusst gewählter Kontrast zu den feinen gewebten Leinenservietten, Geschirrtüchern und Schals, die sie darin präsentiert. Karle möchte Gebrauchsgegenstände weben für Menschen, die Wert auf ein schönes Zuhause legen. Ihr bevorzugtes Material ist Leinen. Aber auch Seide, Baumwolle, Kaschmir, Merino und Alpaka verarbeitet sie. Vorzugsweise kombiniert sie Fasern, die sich nur schwer miteinander verweben lassen. Sie liebe diese Herausforderung. „Es braucht Demut und Respekt gegenüber dem Material und dem Webstuhl“, sagt sie.

Vor gut fünf Jahren beschloss sie, in ihrem Beruf als Webermeisterin keine Auftragsarbeiten mehr zu fertigen, sondern das, was ihr Freude macht. „Ich wollte schon immer gestalten“, sagt sie. Deshalb hätte sie ursprünglich auch Innenarchitektur studieren wollen. Doch zuerst hat sie nach dem Abitur erst einmal Weberin bei ihrer Mutter gelernt, so wie bereits ihre ältere Schwester Monika, die in Kirchheim eine Werkstatt hat. „Es war eine harte Schule“, erinnert sich Karle. Als sie erkannte, dass Innenarchitekten meist in Möbelhäusern verkaufen, verabschiedete sie sich von diesem Berufswunsch.

Karle geht aus dem Nebengebäude in den Keller ihres Elternhauses, wo links ein Schild hängt „Linum Manufaktur für feine Stoffe“. Die Luft ist feucht, es riecht nach Leinen. „Weber sind Kellerkinder“, sagt Karle. Es sei der ideale Ort zum Arbeiten, weil Webstühle laut und schwer sind und die Garne, vor allem Leinen, eine relativ hohe Luftfeuchtigkeit zum Verarbeiten brauchen. In einem Holzregal hat sie Dutzende von Fadenrollen in kräftigen Farben ebenso wie in sanften Naturtönen gelagert. Daneben hängt ihr Meisterbrief von 1989, am anderen Ende der ihrer Mutter Gertrud Widmaier von 1946. Karle geht zu ihrem Lieblingswebstuhl, einem Marquardsenwebstuhl aus den 1920er-Jahren. Es ist ihr schwerster und größter, auf dem sie bis zu 1,90 Meter breite Teile weben kann.

 

Weben schult die Motorik.
Michaela-Stefanie Karle

 

Weiße Fäden hängen über den Holzstangen. Die Webermeisterin erklärt, wie sie ihn gerade einrichtet. Drei Tage wird sie dazu brauchen, bis das neue Muster darauf gewoben werden kann. Karle nimmt einen cremefarbenen Blazer vom Kleiderhaken an der Tür. Es ist ihr Meisterstück. Sie legt ihn neben ein Blatt auf einen Tisch und zeigt den dazugehörigen Zeichenentwurf. Wie Wellen, die sich am Strand nach der Flut im Sand abzeichnen wirkt das Muster. „Es hat meine Mutter noch abgenommen“, sagt sie und erzählt nachdenklich, wie diese plötzlich kurz vor ihrer Meisterprüfung verstorben ist. Sie wollte deshalb abbrechen, doch einer ihrer beiden älteren Brüder habe sie dazu ermutigt, nicht aufzugeben. Karle biss sich durch. Nicht nur bei der Meisterprüfung, sondern auch nach einer gescheiterten Ehe mit zwei Söhnen. Die Jahre in denen die Handweberei boomte, waren vorbei. Die Webermeisterin machte eine Zusatzausbildung als Heilpraktikerin, um Kinder und Erwachsene mit Einschränkungen zu unterrichten. Bis 2010 fertigte sie sporadisch auch Auftragsarbeiten wie Tischwäsche oder Vorhänge.

Nachdem sie mit ihrem zweiten Mann das Elternhaus renoviert hatte und dort eingezogen war, machte sie einen Schnitt. „Jetzt webe ich nur noch das, was ich will“, sagte sie zu ihren vier Kindern. Nur ein Muster pro Jahr sollte es fortan geben. Sie klettert eine steile Holzleiter empor in den oberen Stock des Nebengebäudes. Dort steht der Musterwebstuhl. Hier probiert sie aus, was sie aufgezeichnet hat. „Man muss sehr konzentriert konstruieren, damit das Muster, das man im Kopf hat, auch auf dem Webstuhl funktioniert“, erklärt sie.

 

Der Sohn verhalf ihr zu mehr Bekanntheit

Die Muster von Michaela-Stefanie Karle kommen bei den Menschen an. Seit ihr jüngster Sohn auf ihrem Instagram-Account im Jahr 2019 bunte Servietten postete, die sie ihren Kindern als Weihnachtsgeschenk gewebt hatte, floriert ihr Geschäft. Eine Töpferin aus der Schweiz entdeckte ihre Webkunst und lud Michaela-Stefanie Karle mit ihren handgewebten Arbeiten zu einer gemeinsamen Ausstellung ein. Dadurch wurde ein Haushaltswarenhaus in Luzern auf sie aufmerksam.

Außerdem erhielt Michaela-Stefanie Karle auch die Möglichkeit, auf der Messe „Blickfang“ in Stuttgart ihre Arbeiten publikumswirksam auszustellen. Das war bereits seit 30 Jahren ihr Traum. Seitdem ist die Weberin auch in der Stuttgarter Region bekannter. Sie freut sich, wenn sich jemand für ihre Produkte interessiert. Auch eine Auszubildende einzustellen, kann sie sich vorstellen. Schließlich will sie, dass ihr Handwerk auch weiterhin fortbesteht und geschätzt wird.

Der Ausbildungsberuf zur Weberin wie ihn einst Michaela-Stefanie Karle lernte, existiert in der bisherigen Form heutzutage nicht mehr. Er ist seit August 2011 vom neuen Beruf Textilgestalter im Handwerk der Fachrichtung Weben abgelöst worden. Die duale Berufsausbildung dauert drei Jahre – in Betrieb und Berufsschule. Rechtlich ist keine bestimmte Schulbildung vorgeschrieben.

Vor allem Geduld, Konzentrationsfähigkeit, Kreativität und die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die noch nicht fertig sind, sieht Michaela-Stefanie Karle bei ihrem Beruf als Voraussetzung an – beispielsweise, wenn man Muster zeichnet. Diese Muster werden entweder von Hand oder am Computer erstellt. Weber wählen Garne und bereiten den Webstuhl vor. Sie bedienen mit den Füßen die Tritte, schießen die einzelnen Querfäden mithilfe eines Webschiffchens durch und schlagen jede Fadenreihe an. Nach dem Weben wäscht Michaela-Stefanie Karle das fertige Stück und bügelt die Stoffe. Vom Einsäumen wie es früher üblich war, ist sie zwischenzeitlich aber abgekommen. „Die Webkante zu sehen, ist ein echtes Zeichen für die Handarbeit“, sagt Michaela-Stefanie Karle selbstbewusst. mb