Zwischen Neckar und Alb

„Craft“-Programm hilft doppelt

Neues Konzept für Angehörige von Suchtkranken weist hohe Erfolgsquote auf

Dass Angehörige von suchtkranken Menschen leiden, sich oft mitverantwortlich fühlen und manchmal sogar selbst krank werden, weiß man schon lange. „Craft“ sieht Angehörige als wichtigen Faktor, um einen Weg aus der Sucht zu finden. Die Psychosoziale Beratungsstelle Nürtingen macht damit seit zwei Jahren gute Erfahrungen und hofft, dass der Landkreis dafür mehr Personal bewilligt.

Mit „Craft“ ist nicht der Trend zum handwerklich gebrauten Bier gemeint, sondern eine Konzept, das Angehörige von Suchtkranken s
Mit „Craft“ ist nicht der Trend zum handwerklich gebrauten Bier gemeint, sondern eine Konzept, das Angehörige von Suchtkranken stützt und den Weg zur Therapie öffnen kann. Foto: Markus Brändli

Kreis Esslingen. Das Craft-Programm wendet sich vor allem an die Angehörigen von Menschen, die noch keine professionelle Hilfe gegen ihre Suchtprobleme in Anspruch nehmen wollten. Davon abgesehen, dass die leidenden Familienangehörigen praktische Verhaltensweisen lernen, hat es in 90 Prozent der Fälle dazu geführt, dass die Suchtkranken selbst wenigstens ein erstes Mal zur Beratung gegangen sind. „In den USA gehört Craft zu den wirksamsten Interventionsangeboten“, berichtete Maria Köster-Sommer, Leiterin der Psychosozialen Beratungsstelle Nürtingen (PSB) im Sozialausschuss des Kreistags. Dies gelte nicht nur für Alkohol, sondern auch für illegale Drogen und pathologisches Spielverhalten.

Mit dieser Erfolgsmeldung versuchte sie die Kreisräte und Verwaltung davon zu überzeugen, dass sie dringend zusätzliches Personal benötigt. Wenigstens 0,2 Stellen mehr, damit ein Mitarbeiter für das Craft-Programm einen Tag pro Woche zur Verfügung steht. Derzeit hat die PSB Nürtingen 0,1 Stellen für diese Arbeit abgezweigt.

Bei den Angehörigen, die zur Beratung kommen, handelt es sich oft um Frauen. Das Leben mit einem suchtkranken Partner überfordert sie häufig, sie entwickeln Schuld- und Schamgefühle, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Ängste, Depressionen oder psychosomatische Symptome. Besonders belastend ist die Situation, wenn der Suchtkranke keine Motivation verspürt, etwas zu verändern. Frauen sind zudem häufig häuslicher Gewalt ausgesetzt. Die Kinder leiden nicht nur mit, für sie besteht auch ein erhöhtes Risiko für sie, später selbst suchtkrank zu werden.

Seit den 80er-Jahren hat das Konzept der „Co-Abhängigkeit“ die Beratung von Angehörigen dominiert. Es ging vor allem darum, dass sich die Partner selbst schützen und keine unangemessene Verantwortung übernehmen sollten, nicht selten wurde die Trennung empfohlen. Das Konzept ist heute umstritten, weil es nicht sieht, dass ein Angehöriger den Suchtkranken positiv beeinflussen kann.

Craft (Community Reinforcement and Family Training) bedeutet Stärkung der Gemeinschaft und Familientraining. Seit 2012 wird dieser Ansatz in Deutschland verbreitet. Er geht davon aus, dass die entscheidenden Faktoren zur Überwindung einer Suchtkrankheit in der Lebenswelt der Betroffenen zu finden sind. Angehörige kennen den Suchtkranken am besten. Dass der Suchtkranke auf diesem Weg zur Beratung kommt und sich zumindest mal anhört, welche Reha oder welche ambulanten Angebote in Frage kämen, ist aber nur ein Ziel von Craft. Zunächst geht es um die Lebensqualität der Angehörigen selbst.

In den rund 170 Fällen, die in Nürtingen in den ersten zwei Jahren nach diesem Konzept beraten wurden, wurde nur in einem Fall die Beratung abgebrochen. In allen anderen Fällen, so heißt es im Bericht an die Kreisräte, hat sich die Lebensqualität der Angehörigen verbessert. „Die Beratung hat die ganze Familie im Blick“, erklärt Köster-Sommer. Für jede Sitzung gebe es ein klar beschriebenes verhaltenstherapeutisches Modul. „Wir wollen den Partnern etwas in die Hand geben“, sagt die PSB-Leiterin. Das kann die Vorbereitung auf die nächste Situation sein, in der sich eine Frau gegen häusliche Gewalt schützen muss. Es kann auch das Aufstellen und Durchsetzen von Regeln sein: Zum Beispiel findet dieser Familientreff oder dieser Kinobesuch nur statt, wenn der Partner zu diesem Zeitpunkt nüchtern ist.

SPD-Kreisrätin Solveig Hummel fand die Erfahrungen mit dem Craft-Programm „umwerfend“. Auch die Sprecher von CDU und Freien Wählern waren angetan davon. Für die Aufstockung des Personals ist aber der Sozialausschuss nicht zuständig, darüber muss der Kreistag im Dezember bei der Haushaltsberatung entscheiden. Vielleicht könne man die 0,2-Stelle über eine Umverteilung schaffen, zeigte sich Landrat Heinz Eininger etwas reserviert.